Ein neuralgischer Punkt der Musikästhetik: Theodor W. Adorno und die Frage nach der musikalischen Zeit

Richard Klein (Horben)

Ringvorlesung Musik Kultur Wissenschaft II am Mittwoch, den 6. Juni 2012

Die Frage nach der musikalischen Zeit ist das zentrale Problem der Adornoschen Musikphilosophie, zugleich aber oder vielleicht gerade darum ihr ausgespartes Zentrum.

Sie lässt sich freilich nicht verbindlich formulieren, ohne sogleich die Frage nach dem Verhältnis von Musikwissenschaft und Philosophie nach sich zu ziehen. Insofern haben wir es nicht nur mit einem, sondern mit zwei neuralgischen Punkten zu tun: der Frage nach der Zeit als dem neuralgischen Punkt der Musikphilosophie Adornos und dem neuralgischen Punkt der Musikwissenschaft: ihrem Verhältnis zur Philosophie im Allgemeinen und zur Musikphilosophie Adornos im Besonderen.

Mein Vortrag hat drei Teile. Im ersten Teil werde ich mich kritisch mit dem beschäftigen, was gemeinhin als Adornos »Entwicklungsdenken« oder als seine »Entwicklungsmetaphysik« in musicis gehandelt wird. Im zweiten Teil versuche ich zu darstellen, was es mit dem Begriffspaar intensive vs. extensive Zeit in den Beethoven-Fragmenten auf sich hat. Dabei werde ich abschließend eine bestimmte Hypothese zur Diskussion stellen, die Adorno möglicherweise korrigiert.

Der dritte Teil meines Vortrags setzt sich mit Überlegungen von Carl Dahlhaus zu Adornos Wagnerbuch auseinander. Für sie ist charakteristisch, dass sie die philosophische Begrifflichkeit Adornos nicht reflektiert, was zur Folge hat, das ihr die Substanz dieses Denkens entgleitet, unbeschadet der begründeten musikanalytischen Detailkritik, die sie zugleich leistet. Der Frage nach der Zeit tritt hier im Übrigen die nach dem Verhältnis von musikalischer und im weitesten Sinne politischer Kritik zur Seite.

Literatur:

Nikolaus Bacht: Music and Time in Theodor W. Adorno, London 2002.

Carl Dahlhaus: »Musik und Gesellschaft. Bemerkungen zu Theodor W. Adornos Versuch über Wagner« (1953), in: Ders.: Gesammelte Schriften 9, hrsg. v. Hermann Danuser, Laaber 2006: 11-15.

Carl Dahlhaus: »Soziologische Dechiffrierung von Musik. Zu Theodor W. Adornos Wagnerkritik« (1970), in: Ders.: Gesammelte Schriften 7: Richard Wagner. Texte zum Musiktheater, hrsg. v. Hermann Danuser, Laaber 2004: 352-361

Hans-Joachim Hinrichsen: »Produktive Konstellation. Beethoven und Schubert in Adornos früher Musikästhetik«, in: Markus Fahlbusch/Adolf Nowak (Hrsg.): Musikalische Analyse und kritische Theorie. Zu Adornos Philosophie der Musik, Frankfurt a. M.: 157-175.

Richard Klein: »Prozessualität und Zuständlichkeit. Konstruktionen musikalischer Zeiterfahrung«, in: Otto Kolleritsch (Hrsg.): Abschied in die Gegenwart. Teleologie und Zuständlichkeit in der Musik, Wien 1998: 180-209.

Richard Klein: »Antinomien der Sterblichkeit. Reflexionen zu Heidegger und Adorno«, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 8 (1999), H. 1: 140-175.

Richard Klein/Eckehard Kiem/Wolfram Ette (Hrsg.): Musik in der Zeit – Zeit in der Musik, Weilerswist 2000.

Richard Klein: »Die Frage nach der musikalischen Zeit«, in: Ders./Johann Kreuzer/Stefan Müller-Doohm: (Hrsg.): Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart/Weimar 2011: 59-74

Richard Klein: »Die Tragödie der Zeit und das Problem des Politischen im Ring«, in: Johanna Dombois/Richard Klein: Richard Wagner und seine Medien. Für eine kritische Praxis des Musiktheaters, Stuttgart 2012.

Susanne Kogler: »Zeit, Geschichte und Gegenwart bei Adorno und Lyotard«, in: Musik & Ästhetik 12 (2008), H. 46: 33-48.

Michael Theunissen: Negative Theologie der Zeit, Frankfurt a. M. 1991.

Nikolaus Urbanek: Auf der Suche nach einer zeitgemäßen Musikästhetik. Adornos »Philosophie der Musik« und die Beethoven-Fragmente, Bielefeld 2010. 

Biographische Notiz Richard Klein (* 1953)

Musikphilosoph, Autor und freier Dramaturg, seit 1997 (Mit)-Herausgeber von Musik & Ästhetik. Studium der Orgel und Kirchenmusik in Freiburg. 1980 A-Examen und Konzertexamen im Fach Orgel, SMP-Diplom. Konzerte, Rundfunkaufnahmen. 1976-1994 Dozent für Orgelspiel und Musiktheorie am Amt für Kirchenmusik, Freiburg. Studium der Musikwissenschaft, Philosophie und Neueren Literatur in Berlin (Philosophie: Michael Theunissen) und Freiburg. 1990 Promotion zum Dr. phil. im Fach Musikwissenschaft bei Hans-Heinrich Eggebrecht.

1994-2001: Lehraufträge in Philosophie und Musikwissenschaft an Universität und Pädagogischer Hochschule in Freiburg.

1997-2001 wissenschaftlicher Beirat an der Staatsoper Stuttgart (»Stuttgarter Ring«)

2002-2010 Musikkolumnist des Merkur

2008/09 Gastprofessor für Musikphilosophie an der Hochschule der Künste Bern.

Seit 2011 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Carl von Ossietzky-Universität, Oldenburg (DFG-Projekt zur Musikphilosophie nach Adorno)

Arbeitsgebiete:

Theorie der Zeit, Theorie der Stimme, Musikphilosophie, Musiktheater, Wagner, Adorno, Heidegger, Dylan.

Letzte Buchpublikationen:

My Name It Is Nothin’. Bob Dylan: nicht Pop, nicht Kunst, Berlin 2006 (Lukas-Verlag).

Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hrsg. mit Johann Kreuzer und Stefan Müller-Doohm), Stuttgart/Weimar 2011 (Metzler-Verlag)

Zur Frankfurter Buchmesse 2012 erscheint: Johanna Dombois/Richard Klein: Richard Wagner und seine Medien. Für eine kritische Praxis des Musiktheaters, Stuttgart (Klett-Cotta), 450 S., mit 45 Abbildungen.