Erasmus als Feldforschung? Ein etwas anderer Erfahrungsbericht

Jasemin Khaleli, Studentin im Masterstudiengang „Musikwissenschaft“ der Universität Wien, ging im Studienjahr 2018/19 mit Erasmus+ an die Universidade Nova de Lisboa. Ihr Aufenthalt bot nicht allein Gelegenheit, sich zwei Semester lang intensiv der Feldforschung für die Masterarbeit zu widmen, sondern führte auch zu neuen Perspektiven auf die Welt, das Studium und nicht zuletzt sich selbst.


Über ein Jahr im Ausland zu reflektieren, ist gar nicht so einfach. Vielleicht besonders dann nicht, wenn sich die üblichen Fragen gar nicht stellen: Unialltag und Angebote für „Internationals“ an der Gastuniversität? Praktische Tipps zu Wohnungsbörse oder Hilfestellungen zur Stadtorientierung? – Meine Erfahrungswerte sind in diesen Bereichen so gering, weil dies bereits mein zweiter längerer Aufenthalt in Lissabon war und ich somit vieles überspringen und von bereits vorhandenen Kontakten profitieren konnte. Deshalb möchte ich hier Einblick in eine etwas andere Erasmus-Erfahrung geben und Neugierde auf die Stadt wecken.

1. Ankunft. Mich in die Stadt einfühlen

Mein erster Erasmus-Praktikums-Aufenthalt in Lissabon reicht über drei Jahre zurück, und so lange auch der Wunsch, noch einmal in der portugiesischen Hauptstadt zu leben (dies nur zur nachhaltigen Bedeutung einer Auslandserfahrung überhaupt). Ich wollte endlich fließend Portugiesisch sprechen, tiefer in die Stadt und ihre Geschehnisse eintauchen. Mich mit Kuduro, Baile Funk oder anderen prominenten musikalischen Luso-Imaginationen umgeben, und damit meine Abende und Masterarbeitsseiten füllen. Mich lieber von den (Erasmus-)touristisch überlaufenen, alkoholisiert-lärmenden Straßen des Bairro Alto fernhalten. Nicht hinter alles lässt sich ein Haken setzen, und letztlich wurde vieles davon zu meinem Forschungsfeld.

Meine ehemalige Arbeitskollegin und neue Mitbewohnerin hatte mich schon vorbereiten wollen: Ich werde Lissabon nicht wiedererkennen. Gentrifizierung und Massentourismus haben das Stadtbild rapide verändert und sich in die Rhetorik eingeschrieben, mit der über Lissabon berichtet, auf Wände gesprayt oder auf Demonstrationen skandiert wird. Dieser Wandel begegnet uns auch andernorts, aber vielleicht nicht mit jenem morbiden Sarkasmus von Perspektivlosigkeit, vor allem vonseiten der jungen Generation. Lissabons Einwohner*innenzahl ist in den letzten Jahren stark zurückgegangen, Innenstadtmieten steigen auf Wiener Niveau (allerdings bei einem Mindeststundenlohn von 3,94 €), damit ebenso Suburbanisierung und soziale Segregation. Die Prekarität der Verhältnisse Vieler drängt sich ständig ins Bewusstsein, und mir sich meine Privilegien gleich mit dazu.

Der steile Anstieg zum historischen Stadtteil Graça, wo ich wohnte, hat den Gentrifizierungsprozess verzögert, aber auch der höchste der sieben Stadthügel wird nun von Tuk Tuks und Baulärm eingenommen. Ja, in Lissabon wird einem*r zuerst das Ohr geöffnet: Das dumpfe Vibrieren und Hupen der Kreuzfahrtschiffe; das Rattern von Trolleys über die löchrigen, schwarz-weiß bepflasterten und gefährlich-rutschigen Fußwege; der Flugzeuglärm, der Unilehrveranstaltungen quasi im 10-Minuten-Takt unterbricht. Lissabons Sound wirkt fast bedrohlich, er verweist auf die Existenzialität von Wohn- und Stadtraum.

Dann gibt es aber auch noch die anderen Klänge, die die romantisierten Fantasien der zu verlieren befürchteten „alma portuguesa“ (portugiesische Seele) füttern: das Scheppern von Café-Tassen auf Glastheken, das Klingeln der Straßenbahnen, Zurufe von Nachbar*innen, die Pfeifenmelodie von Messerschleifern, die Kakophonie aus Straßen-Bossa Nova, Fado und Música Pimba. Lissabon ist eine sensuelle Stadt. Nicht hektisch meistens, aber hör-, riech-, schmeck- und tanzbar. Wer will, wird schnell Teil der kleinstädtischen Gemeinschaft und ihrer Rituale.

2. Universität. Augen offen halten nach Inspiration

Meine Eindrücke fanden ihr Gegenstück in diversen Veranstaltungen in und um die Universität: Die Auseinandersetzung mit dem urbanen Wandel findet überall statt. Da ich für meinen Masterabschluss in Wien keine ECTS mehr absolvieren musste, aber unbedingt Anbindung an die Universidade Nova de Lisboa finden wollte, konnte ich ganz nach meinen Interessen gehen.

Die sozialwissenschaftliche Fakultät (Faculdade de Ciências Sociais e Humanas) bildet den alten Campus im nördlicheren Stadtteil Campolide. In der schmucklosen 70er-Jahre-Bauanlage bietet das ethnomusikologische Institut (INET-md) einen kleinen gemeinschaftlichen Arbeitsraum und damit die Möglichkeit, schnell mit den Institutsmitarbeiter*innen in Kontakt zu kommen. Ebenso gibt es in diesem gläsernen Hochhausturm sehr günstige Mittagessen und Arbeitsmöglichkeiten – und in den nass-klammen Winterunannehmlichkeiten ist die Bibliothek einer der wenigen beheizten Orte. Da selten Verlass auf die Busse Richtung Innenstadt ist (Achtung: Handzeichen zum Halt geben und Einstiegsreihenfolge der Wartenden beachten!), ist der Weg zur Metro durch die grüne Oase um die Gulbenkian-Museen umso reizvoller. Lissabon ist sowieso eine Stadt, die zu Fuß begangen werden muss.

Der Master Musikwissenschaft (Ciências musicais) – schwerpunktmäßig in eine historische und eine ethnomusikologische Ausrichtung aufgeteilt – lässt den Studierenden wenig Raum bei der Kursauswahl. Die Studienpläne sind in akademische Jahre gegliedert, die Veranstaltungen werden entweder regulär im ersten (Sommersemester) oder zweiten Semester (Winter) angeboten. Die dreistündigen Seminare finden abends zwischen 18 und 21 Uhr statt, denn der Unibetrieb ist auf Berufstätigkeit ausgelegt, und haben dabei einen Fokus auf Fachgeschichte und (Post-)Migration. Gute Sprachkenntnisse sind hier definitiv von großem Vorteil, mit einem B2-Niveau war ich im Master Ethnomusikologie die einzige Incoming-Studentin. Es ist also ratsam, die günstigen Sprachkursoptionen an der Universidade Nova zur Weiterbildung wahrzunehmen.

Die Überschaubarkeit des Masterstudiengangs ist vielleicht etwas verwunderlich, wenn man die rege Forschungstätigkeit des INET-md und dessen Reputation bedenkt (Direktorin ist die ICTM-Präsidentin Prof.in Salwa El-Shawan Castelo-Branco). Einmal durch das Homepage-Labyrinth durchgekämpft, können sich aber auch noch ein paar andere Veranstaltungsoptionen auftun: Es gibt postgraduale Studien oder forschungsnahe „opções livres” (freies Wahlangebot). Mitbelegt habe ich letztlich: Geschichte der Ethnomusikologie, (reguläre MA-Lehrveranstaltung), Anthropologie des Klangs (postgraduales Studium in Akustik und Sound), Migration, Inter-Ethnizität und Transnationalismus (aus dem MA Anthropologie), Klangkulturen, Requalifizierung und die Touristifizierung von Stadtraum (opções livres) sowie einen Film-Workshop zu Anatomien der Stadt an der Ar.Co, Hochschule für Kunst und visuelle Kommunikation in Xabregas. Mich neben meiner Forschungstätigkeit auch in ganz andere Projekte zu involvieren, schaffte nicht nur einen Ausgleich, sondern war auch wichtig, um meine Arbeit und ihre Diskurse in Relation zu anderen Stadtgeschehnissen zu setzen. Ein Dokumentarfilmprojekt zu den marchas populares und den Juni-füllenden Stadtfesten beispielsweise hat mir ganz andere Einblicke in Identitäts-Verhandlungen der Stadt ermöglicht.

3.  Explorieren im Feld. Meinen „Schweinehund“ überwinden

Inspiriert von diesen künstlerisch-praktischen und sozial engagierten Zugängen, war irgendwann die Entscheidung getroffen: Für meine eigene Forschung wollte ich mehr vom Stadtraum ausgehen als von einer bestimmten Gruppe, wollte aktivistische Veranstaltungs-räume in Lissabon kennenlernen, alternative Formen des Musik-Erlebens und Community-basierten Sorgetragens. Es ist womöglich eine Tendenz und eine gewisse Utopie des Fachs, marginalisierte Perspektiven hörbar machen zu wollen; für mich war es auch eine Frage von Zeit und Zugänglichkeit. Als ich Ende August in Lissabon ankam, hatte ich meinen Aufenthalt erst einmal für ein Semester angedacht. Und ich wollte richtig Lust auf mein Thema haben.

So durchforstete ich Veranstaltungskalender, engagierte mich, suchte den Austausch mit Personen aus akademischen, kreativen, aktivistischen Kreisen und Kollektiven und wollte verstehen, wie die Stadt sich selbst gegen-erzählt (feministische und postkoloniale Stadtrundgänge oder DIY-Radioprogramme können beispielsweise sehr aufschlussreich sein). Der Snowball-Effekt tat letztlich seinen Dienst, und schließlich fokussierte ich mich auf die queer-feministische Electronic Dance Music Scene. Mein Netzwerk verdichtete sich, Türen öffneten sich, Anfragen wurden weitergeleitet und Interviews geführt. Vielleicht hat sich hier eine gewisse Naivität und Unvoreingenommenheit als „Außenstehende“ ausgezahlt, und ebenso die Bereitschaft, mein eigenes Komfortgefühl zu triezen.

Forschung im Nachtleben ist anstrengend, konventionelle Feldforschungsmethoden sind ungeeignet, und man setzt sich selbst und andere bestimmten Verletzlichkeiten aus. Umso größer ist meine Dankbarkeit für all den Zuspruch und die Unterstützung vor Ort. Von den Akteur*innen wurde ich dazu eingeladen, Artikel über ihre Kollektivarbeit zu veröffentlichen und mich an Talks zu beteiligen, um sogenannte safer spaces in einem Spannungsfeld zwischen Innenstadt und Peripherie, Mainstream und Underground, DIY und Institutionalisierung zu problematisieren. Ich wurde Teil der Räume, die ich erforschte, und zugleich Mitarbeiterin des Forschungsprojekts „Sounding Out the Tourist City: Sound, Tourism and the Sustainability of Urban Ambiances in the Post-industrial City“ (INET-md/FCT) an der Universität. Dies ermöglichte mir, mich regelmäßig mit Kolleg*innen auszutauschen, an internationalen Konferenzen teilzunehmen, über mein Projekt zu referieren und mich in der akademischen Welt zu vernetzen.

Zu Forschungszwecken ins Ausland zu gehen, bringt eine große Gestaltungsfreiheit mit sich, aber manchmal auch eine lähmende Bewusstwerdung kompletter Eigenverantwortlichkeit. Mit wachsend vertrauensvollen und wechselseitigen Beziehungen zu Interviewpartner*innen und Kolleg*innen wurde dies nicht gerade weniger. Dennoch – oder gerade deshalb – bietet dieses „Erasmus-einmal-anders“ ein großes Potential: Weil das Einfinden in Forschungsfeld und Wohnort zugleich etwas sehr Sensibles, Umgestaltendes und Erkenntnisreiches ist. Eine weit feldforschungserfahrenere Stimme des Instituts, Dr.in Kerstin Klenke, hat einmal zu mir gesagt, ihr erstes Feldforschungsjahr habe das Spektrum, das sie zu fühlen imstande sei, in die Extreme beider Richtungen ausgeweitet. Vielleicht könnten das für die ein oder andere Person schon genug Worte der Motivation sein.

Stand: 26. September 2019