Die Geschichte des Farbenhörens von 1812 bis 1988
Die Geschichte des Farbenhörens von 1812 bis 1988
Lise-Meitner-Programm des FWF M 2440-G28
Projektlaufzeit: 2018–2020
Leitung: Dr. Jörg Jewanski
in Verbindung mit Univ.-Prof. Dr. Christoph Reuter
Synästhesie ist eine seltene Art der Wahrnehmung, bei der Sinnesreize oder kognitive Konzepte wie Musik, Wochentage oder das Alphabet automatisch zu zusätzlichen Wahrnehmungen führen, die als untrennbar verbunden mit dem Auslöser erlebt werden: Wörter lösen gleichzeitig Geschmacksempfindungen aus, Buchstaben erhalten Texturen; Klänge, Zahlen oder Wochentage werden farbig empfunden. Heute sind mindestens 73 Synästhesiearten bekannt. Es handelt sich um eine konstante und unwillkürliche Kopplung von Wahrnehmungen, die bei immerhin ca. 4% der Bevölkerung auftritt und in der Alltagsbewältigung (z.B. Gedächtnisleistung) meistens Vorteile mit sich bringt. Die Erforschung der Synästhesie gibt Einblicke in individuelle Unterschiede von Wahrnehmung und Erleben gesunder Personen und hilft zu verstehen, wie verschiedene Gehirne die Realität unterschiedlich wahrnehmen. Farbenhören, also das Empfinden von Farben und Formen bei auditiven Stimuli, meistens beim Hören von Tönen, Klängen oder Musik, gehört zu den häufigsten Formen von Synästhesie.
Der erste dokumentierte Fall eines Farbenhörers stammt aus dem Jahr 1812. Seitdem sind zahlreiche Fälle beschrieben und empirische Studien durchgeführt worden. Im 19./20. Jahrhundert fand eine intensive Diskussion statt, die noch nicht aufgearbeitet ist. Eine umfassende internationale Bibliographie zur Geschichte des Farbenhörens bis 1989 existiert genauso wenig wie eine Zusammenstellung und kritische Sichtung der erzielten Ergebnisse. Das Ziel des Projektes ist es daher, als Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte den immensen Bestand an Literatur aus verschiedensten Sprachen erstmalig zusammenzuführen, eine möglichst vollständige Bibliographie zu erstellen und diese in Hinblick auf die Entwicklung von Hypothesen und Theorien zum Farbenhören auszuwerten.
Die Auswertung soll in englischer Sprache mit Übersetzung aller wichtigen Quellentexte und detailliertem Index als umfangreiche Monographie veröffentlicht werden, die die Funktion eines historischen Standardwerkes haben soll. Ergänzend soll eine online-Datenbank (open access) mit möglichst vielen Details zu Farbenhörern erstellt werden. Dadurch wird sichergestellt, dass das Wissen des 19./20. Jahrhunderts zum Farbenhören nicht in Vergessenheit gerät. Viele Quellen sind bislang weder über das Internet verfügbar noch über die üblichen Bibliographien wie Medline oder Psyndex zu finden.
Eine empirische Studie (in Kooperation mit dem Synästhesie-Laboratorium in Brighton, GB), eine enge Kooperation mit der amerikanischen International Association for Synaesthetes, Artists and Scientists (IASAS) und ein internationaler Kongress zum Farbenhören (in Wien) ergänzen das Projekt, schaffen neue Perspektiven und lassen das Wiener Institut für Musikwissenschaft zu einer internationalen Anlaufstelle für Synästhesie werden.