Musik als Autobiographie

FWF Lise-Meitner-Programm M 1896
Projektlaufzeit: 2016–2017

Leiter: Prof. Dr. Mark Evan Bonds, M.A.
(in Verbindung mit Univ.-Prof. Dr. Birgit Lodes)

(Bildquelle: www.newyorker.com/magazine/2014/10/20/deus-ex-musica)

Project Description in English

Musik wurde stets als eine mit Gefühlen verbundene Kunst wahrgenommen. Aber wessen Gefühle hören wir in der Musik eigentlich? Die Antworten auf diese Frage haben sich seit dem 18. Jahrhundert mehr als einmal geändert und dabei oftmals ins Gegenteil verkehrt. Kritiker und Komponisten der Aufklärungszeit sahen im musikalischen Ausdruck die objektive Wiedergabe vom Emotionen oder einer Abfolge von Emotionen, die aufgrund ihrer gestalterischen Form eine vorherberechnete Reaktion bei den Zuhörern hervorrufen sollen. Die Meinung, dass ein Musikstück die persönlichen Emotionen des Komponisten oder sein Innerstes widerspiegelt, setzte sich erst ab den 1830er Jahren durch und wurde von einem Bündel philosophischer, kultureller, technologischer und wirtschaftlicher Veränderungen angetrieben. Ein neues Verständnis des Selbst, die steigende Bedeutung von Emotionen und die Entstehung eines Massenmarkts für Musik führten zu der Wahrnehmung von Musik als einer emotionalen Autobiographie. Durch die Wahrnehmung schwieriger neuer Werke als Ausfluss einer einzigartigen Individualität waren die Zuhörer in der Lage, sich das zunehmend vielfältige und anspruchsvolle Spektrum musikalischer Ausdruckweisen zu erschließen. Komponisten ihrerseits (Berlioz, Schumann und Liszt u. a.) betonten das Konzept von Musik als Autobiographie in ihren Schriften und nutzten es strategisch in ihrer Eigenwerbung. 

In den frühen Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts verschwand diese Anschauung jedoch beinahe so rasch wie sie gekommen war: Viele führende Komponisten – besonders Igor Stravinsky – kehrten zu der Auffassung zurück, dass auch der Ausdruck frei gestaltet werden kann. Diese neue Wahrnehmung, die im Ausdruck ein unabhängiges, rationales Kunstprodukt sieht, entwickelte sich zu einem Schlüsselelement der modernen Ästhetik, beginnend mit der Neuen Sachlichkeit der 1920er Jahre bis zur Blüte der Moderne in der Mitte des vorigen Jahrhunderts. Die Wahrnehmung von musikalischen Werken als Ausdruck innersten Empfindens eines Komponisten hat sich dennoch als durchaus standhaft erwiesen: Selbst dort, wo man eingesteht, dass es sich bloß um eine nützliche Konstruktion handelt, hat die Gleichsetzung von Biographie und Werken einen großen Einfluss behalten. 

Music als Autobiographie, eine Monographie im Umfang von 120.000 Wörtern, wird die wechselnden Sichtweisen betreffend Musik als eine Form der Selbstoffenbarung im Wandel der Zeit beleuchten. Das Buch wird viele Wissensgebiete auch außerhalb der Musik einbeziehen, insbesondere die Philosophie, Psychologie, Wirtschaft, Literatur, Schauspiel und bildende Kunst, um umfassend dazulegen, welchen Veränderungen die Einstellung zum Verhältnis von Werk und Biographie von Komponisten in den letzten 300 Jahren unterworfen war.