Abstract des Dissertationsprojekts

Franz Liszts „Eine Faust-Symphonie in drei Charakterbildern nach J. W. von Goethe“: Werkgenese – Schaffensprozess – Fassungen

Franz Liszts Faust-Symphonie zählt zu den Schlüsselwerken des symphonischen Kanons des 19. Jahrhunderts. Trotz der Vielfalt an bisherigen Studien zum Werk (allerdings mit stärkerem Fokus auf musikanalytische, semantische sowie rezeptionsgeschichtliche Fragestellungen) gibt es wesentliche musikphilologische Aspekte dessen Genese, die bis dato nicht gründlich erforscht worden sind. Von Liszts beinahe dreißigjähriger Arbeit an der Symphonie zeugt ein Mosaik von handschriftlichen und gedruckten Quellen, die zum Großteil in Weimar und Budapest aufbewahrt werden. Ihre Dokumentation und Auswertung erfolgte jedoch zuletzt in den 1960er Jahren, dem damaligen Stand der Liszt-Forschung entsprechend. Darüber hinaus wurden die sukzessiven Entstehungs- und Revisionsstadien bislang nicht im Detail rekonstruiert.

Ausgehend von einer aktualisierten Dokumentation, Beschreibung, Datierung und Auswertung sämtlicher Quellenmaterialien setzt sich die Arbeit eine Rekonstruktion des Schaffensprozesses in all seinen Entwicklungsstadien zum Ziel. Mithilfe der methodischen und terminologischen Werkzeuge der musikbezogenen genetischen Textkritik sollen die Quellen aus textgenetischer Sicht erschlossen werden: Bei den autographen Quellen werden die einzelnen Schreibschichten entziffert, die dokumentintern entstandenen Varianten rekonstruiert und Schlüsse bezüglich Liszts textdynamischer Schreibvorgänge gezogen. Quellenübergreifend werden neben den textuellen Varianten Instrumentationsänderungen sowie Umarbeitungen in der Formdisposition untersucht.

Die Rekonstruktion des Schaffensprozesses teilt sich in drei Segmente, die auch den Arbeitsphasen des Komponisten entsprechen: Das erste Segment betrifft die Entstehung der ersten Skizzen sowie zweier umfangreicher Arbeitsmanuskripte (orchestrale Frühfassung und Frühfassung für zwei Klaviere); das zweite Segment fokussiert auf die Überarbeitung und Vorbereitung beider Versionen (für Orchester bzw. zwei Klaviere) für den Druck; und im dritten werden Liszts Spätrevisionen, die der Drucklegung der Partitur folgten, unter die Lupe genommen.

Der Begriff der ‚Fassung‘ wird in dieser Studie kritisch betrachtet und diskutiert: Trotz klar voneinander abgetrennter Bearbeitungsstadien wies nämlich Liszts Arbeitsprozess im Fall der Faust-Symphonie – aus inhaltlicher Sicht – stark kontinuierliche Züge auf, sodass das Herauskristallisieren von separaten ‚Fassungen‘ zuweilen in die Kategorie des philologischen Konstrukts zu fallen vermag. Andererseits dürfen die Frühfassungen keinesfalls abgewertet und bloß als Vorstufen einer ‚Fassung letzter Hand‘ angesehen werden. Die in der Dissertation behandelten Problematiken tangieren somit die aktuellen musikphilologischen Diskurse hinsichtlich der Relativierung eines feststehenden Werkbegriffs.