Gedenken an Manfred Angerer
Stephan Suchy
Wir müssen jetzt eine Zäsur bewältigen. Durch eine Plötzlichkeit, die kaum begreifbar ist, wurde uns Prof. Angerer entrissen. Das Wissen um die Endgültigkeit des Abschiedes und das Gefühl der Machtlosigkeit, hier nur mehr die bittere Realität anerkennen zu können, haben mich in einen Schockzustand versetzt.
Und weil gerade Prof. Angerer in meinem Denken und meinen Vorstellungen noch so präsent ist, kommt es mir manchmal so vor, als befände ich mich in einer falschen Wirklichkeit. Denn ganz real und konkret ist noch alles, was ich mit ihm in Verbindung bringe und mir von ihm vorzustellen vermag. Und ich weiß, dass diese Erinnerung an ihn nicht verblassen wird.
Prof. Angerer war wirklich keine blasse Gestalt, verschwommene Figur oder diffuse Persönlichkeit. Für mich hat er eine geradezu ideale Form gefunden, Wissenschaft als Lebensform für sich zu realisieren. Das war nicht nur in den traditionellen Formen wie im Hörsaal oder in Publikationen so, sondern konnte jederzeit auch im alltäglichen Gespräch erlebt werden. Denn mit Fragen konfrontiert, hat er sich niemals mit Formeln, wie etwa „Das ist aber nicht mein Fachgebiet“, der Diskussion entziehen wollen.
Da er so umfassend belesen und gebildet war und sein Interesse, Neues zu erfahren, nie erlahmte, war ein Gespräch mit ihm stets eine Chance für Anregungen, Wissenserweiterung oder das Kennenlernen einer anderen Sichtweise. Und das konnte man von Prof. Angerer ganz unkompliziert bekommen. Sein Studentenkontakt war nicht so formalisiert, dass er sich nur auf die wöchentliche Sprechstunde beschränkte. Er versteckte sich nicht vor den Studenten oder hielt sie etwa auf Distanz. Auch sah er sie nie als Störfaktor, ohne den die Universität doch viel schöner wäre. Begegnete man ihm in einer Pause vor dem Institut draußen, so ließ er sich in jede Art von Kommunikation verwickeln. Dabei war er so flexibel und anpassungsfähig, dass sich die Gespräche – oft durch Prof. Angerers charakteristisches Lachen angereichert – in die unterschiedlichsten Richtungen entwickeln konnten und die Beteiligten in eine fröhliche Stimmung versetzten.
Dieser Mut zum eigenen Stil war auch in seinen Lehrveranstaltungen erkennbar. Den Hörsaal durchschreitend entwickelte er Ideen oder relativierte sie wieder. Auf keinen Fall war sein Unterricht ein bloßes Replizieren von Fakten, ein Präsentieren von kodifiziertem Buchwissen oder ein bloßes Abspielen multimedialer Materialien.
Was für mich seinen Unterricht so attraktiv und erfrischend machte, war seine Bereitschaft, die eigene Reflexion einfließen zu lassen und auch die Studenten zur eigenen Reflexion anzuregen. Und das war immer sehr interessant und wert, seine Vorlesungen aufzusuchen. Dabei waren seine Reflexionen nie von der Art, dass sie den Studenten eine subjektive Sichtweise aufoktroyieren wollten oder irgendein esoterisches Wissen einzuträufeln beabsichtigten. Prof. Angerer war auch kein Prediger für eine selbstbegründete musikwissenschaftliche Sektenbewegung. Außerdem lag ihm nichts ferner, als Studenten unter seinen Einfluss zu bringen, damit sie als Jünger seine Lehre verbreiteten.
Wir sind jetzt in einer Situation, wo vieles an der Universität diskutiert, reformiert, verändert wird. In dieser Lage voller Unsicherheiten und Fragezeichen fehlt uns eine Persönlichkeit wie Prof. Angerer, der eine klare Vorstellung davon hatte, was Musikwissenschaft sein kann und wie sie an der Universität zu vermitteln sei. Er hat keine kurzzeitigen Trends verfolgt, modischen Konzepten und Terminologien hat er misstraut. Aber uns Studenten, besser gesagt: mehreren Generationen von Studenten hat er etwas mitgegeben, was uns ein ganzes Leben begleiten wird.