Laudatio funebris

Michele Calella

Liebe Frau Rathgeber, sehr geehrter Herr Angerer, liebe Familienangehörige und Trauergemeinde!

Es kann merkwürdig erscheinen, dass gerade ich als Vertreter des musikwissenschaftlichen Instituts hier über Manfred Angerer spreche, ich, der ihn seit weniger als vier Jahren persönlich kannte und nur für sieben Wochen sein Kollege war. Aber Manfred Angerer war ein Phänomen von außerordentlichem Ausmaße, ein Phänomen, das man unabhängig von jeglicher persönlichen Bekanntschaft zur Kenntnis nahm.

Bereits 1994, als ich im westfälischen Münster studierte, machte mich ein junger Erasmus-Student aus Wien namens Dominik Schweiger mit dem Namen „ Angerer“ zum ersten Mal bekannt. Damals ging es lediglich um einen  brillanten jungen Assistenten.

Aber als ich nur 11 Jahre später, das heißt im Jahre 2005, in diese Stadt hinzog, hatte „der Angerer“ – wie Kollegen und Studierende ihn nannten – bereits eine umfangreiche Festschrift von seinen Schülern bekommen und ich erfuhr mit großem Staunen, dass dies zu seinem fünfzigsten Geburtstag erfolgt war. Denn welcher Dozent bekommt eine Festschrift mit 50? Meine Neugier wurde immer stärker, zumal ich feststellen musste, dass seine Veröffentlichungstätigkeit sich in den letzten Jahren verhältnismäßig in Grenzen gehalten hatte; ein echtes Rätsel also, eine intellektuelle Autorität, die sich fast wie in antiker Zeit primär in einer Kultur der direkten, mündlichen Lehre bewegte.

Abgesehen von einer flüchtigen Begegnung, war es erst am 16. September 2006, dass Manfred Angerer mir vertrauter wurde und dies leider von allen seinen menschlichen, zerbrechlichen Seiten:

Als er an diesem Tag während eines Vortrags bei einem Symposium einen plötzlichen Herzinfarkt erlitt, konnte ich bei den ratlosen Blicken seiner anwesenden Studierenden und seiner Ehefrau die Angst vor dem spüren, was vor zwei Wochen leider Wirklichkeit geworden ist. Und bereits bei der unglaublichen Resonanz dieses Ereignisses bei Kollegen und Bekannten konnte ich damals ahnen, welche Bedeutung er im Leben all dieser Menschen eingenommen hatte.

Manfred Angerer war eine geniale Figur, jemand, den die heutigen Psychologen etwas nüchtern als Hochbegabung bezeichnen würden, wie viele seiner Art oft unbequem, und dies bereits in seinen ersten Jahren: Denn wer möchte an der Stelle jenes Lehrers der Volksschule Pöchlarn sein, der am Ende der  fünfziger Jahre von einem schlauen Kind geplagt wurde, weil dieses sich unbedingt über Shakespeares Königsfiguren unterhalten wollte? Selbstverständlich war dieses Kind für das humanistische Gymnasium prädestiniert, das er bis 1972 in St Pölten besuchte. Seine hervorragende humanistische Ausbildung, seine Kenntnis der altklassischen Sprachen und Literaturen,  für die er eine große Liebe hegte, konnte man bei ihm immer wieder spüren.

Seine musikalischen Begabungen brachten ihn bereits 1970 an die Wiener Musikhochschule, wo er Konzertfach Klavier studierte. Alle Freunde, Kollegen und Studierenden wissen, wie souverän er Klavier spielen und besonders wie gut er vom Blatt lesen konnte. Einer Karriere als Pianist hätte wahrscheinlich nichts im Wege gestanden. Aber wie es typisch für Menschen ist, die sehr begabt und intellektuell neugierig sind, hatte Manfred Angerer zuerst Schwierigkeiten sich endgültig für eine spezielle Laufbahn zu entscheiden. Und auch im akademischen Bereich boten Philosophie und Musikwissenschaft zwei starke Alternativen. Man hatte sowieso das Gefühl, dass er sich im tiefsten Herzen nie richtig entschieden hatte und immer wieder versuchte, in seiner akademischen Karriere diese Bereiche zu einer Einheit zu bringen. Mir hat er einmal gesagt, dass es ihn damals zur Musikwissenschaft als Fach mehr hingezogen hatte, weil die Zahl der Studierenden gering war und die Stimmung sozusagen familiärer wirkte. Eine Begründung, die fast ironisch wirkte, wenn man bedenkt, dass er in letzter Zeit Seminare und Übungen in überfüllten Hörsälen hielt – und dies auch sehr gerne tat.

1979, als er noch nicht 26jährig sein Doktorat mit einer Dissertation über Alexander Skrjabins späte Werke abschloss, schien sein Weg in die Musikwissenschaft bereits klar zu sein. Musikwissenschaft war jedoch für Manfred Angerer nie die apologetische Plauderei über die Komponisten der klassisch-romantischen und modernen Tradition, die nach wie vor im Zentrum seines musikalischen Interesses standen. Er machte nie aus seiner Liebe für die Musik den Gegenstand seiner Lehre und Forschung, sondern diese Liebe und seine musikalische Kompetenz waren nur die Stütze für eine profunde Reflexion über die Kunst.

Das Fach Musikwissenschaft, dessen Grundlagen er an sich problematisch fand und oft kritisierte, bedeutete für ihn sowohl ein Nachdenken über Musik als auch eine historische Reflexion über das Denken in Musik. Er hatte wie wenige verstanden, dass das Problem nicht am so genannten „Kanon der Meisterwerke“ lag, sondern an der Art, wie man über diesen Kanon denkt. Er spürte dabei die Aporien der aktuellen Musikproduktion sowie die Probleme einer Kultur, in der die großen philosophischen Systeme zusammengebrochen waren. Er war jedoch nicht ein Kulturpessimist, der gern pseudoadornianische Posen einnahm oder sich in „o tempora, o mores“ - Attitüden stilisierte. Denn für Manfred Angerer war jede kritische Position mit Skepsis begleitet.

Aufgewachsen in einer Kultur, in dem Musikwissenschaft wenig mit anderen Fächern und oft wenig mit Musik zu tun hatte, konnte ein Universalgelehrter und Denker wie er nur Unbehagen an seinem Umfeld empfinden. Eine solche Persönlichkeit, die nicht auf eine feste Typologie zurückzuführen war, konnte für wissenschaftstheoretische Dogmen oder positivistische Oberflächlichkeiten wenig übrig haben. Dabei war er ein Mensch, der konsequent seine Prinzipien und seine Ideale verfolgte und nicht jemand, der schnell bereit war, Kompromisse zu schließen – nicht einmal mit seiner eigenen Gesundheit.

Wegen seiner grundsätzlich skeptischen, oft pessimistischen Natur kein harter Kämpfer, zog er sich dann im Laufe der Neunziger Jahre immer mehr in eine gleichsam innere Emigration zurück, in die hauptsächlich seine Schüler ihn begleiteten.

Manfred Angerer hatte nie eine offizielle Absage an die musikwissenschaftliche Szene erteilt, aber diese Szene schien ihn nicht besonders zu begeistern, zumindest nach seinen spärlichen Teilnahmen an musikwissenschaftlichen Symposien und Kongressen in den letzten zehn Jahren zu urteilen.

Seine Skepsis betraf jedoch nicht nur das Fach oder die Tätigkeit anderer Kollegen, sondern auch sich selbst und seine eigene Definition als Geisteswissenschaftler. Er war auch ein ausgeprägter Selbstzweifler, und man konnte nie sicher sein, ob man seine scharfen Worte oder polemischen Statements als Zeichen von Überheblichkeit oder Unsicherheit beurteilen sollte.

Er hatte jedoch nie eine Absage an die Unterrichtstätigkeit erteilt und diese stand immer mehr im Zentrum seines Interesses. Unterrichten war für Manfred Angerer sich in einer Umwelt zu bewegen, die wenig von fachspezifischen Schranken geprägt war, in einem freien Raum voller junger Köpfe zu reden, wo es Platz für Widersprüche und Umdenken ohne wissenschaftspolitische Vorbelastungen und Moden gab; ein Moment, in dem die freie Entfaltung seines Wissens mit kritischer Reflexion eng verknüpft war.

Die Studierenden konnte er auf vielfältige Weise faszinieren und in seinen Bann ziehen: durch sein enzyklopädisches Wissen, sein Gedächtnis, seine unzähligen Anekdoten, durch den Reichtum seiner Assoziationen, durch seine scharfe Ironie, seine Bereitschaft, alle möglichen Themen mit ihnen persönlich zu vertiefen. Wie ein gütiger Vater konnte er auf die schwierigen Lebensphasen einiger sehr einfühlsam Rücksicht nehmen, mit den Wissenslücken anderer konnte er nachsichtig sein.

Es war nicht immer einfach, den Menschen Angerer vom Intellektuellen Angerer zu unterscheiden, wie ein Blick in seine Wohnung zeigen konnte, wo die Bücher bis zur Decke reichten. Es war fast unmöglich ihn auf der Straße zu treffen, ohne dass er ein Sackerl voller neuer Bücher mit sich schleppte. Er schien bemüht, Bücher wie Wissensspeicher in seiner unmittelbaren Umgebung in Sicherheit zu bringen.

Manfred Angerer ist zwar zu früh gestorben, er ist jedoch so gestorben, wie er gerne gelebt hat: beim Lesen an einem Schreibtisch, auf dem sich Bücher wie Türme stapelten, um ihn von der Umwelt gleichsam in Schutz zu nehmen, in einem Zimmer, in dem die fast vier Meter hohen Wände hinter Regalen voller Bände verschwanden.

Es ist wahrscheinlich seiner Frau Eike Rathgeber zu verdanken, dass in seiner großen Wohnung das Esszimmer von Büchern befreit geblieben ist, wie eine kleine Insel des einfachen Genusses, der für viele so genannte Geisteswissenschaftler oft ein Problem sein kann.

Die Begegnung mit der jungen Musikwissenschaftlerin und leidenschaftlichen, experimentierenden Köchin hatte seinem Leben neue Facetten hinzugefügt. Und gegen alle Klischees hatte eine sonnige Deutsche ein starkes Licht in die dunkle Lesekammer des grübelnden Österreichers gebracht.

Wie Tania Blixens französische Köchin Babette mit ihrer skandinavischen pietistischen Gemeinde, hatte sie ihm die Lust am entspannten Genießen beigebracht und zugleich gezeigt, dass nicht nur Musik und Denken, sondern auch Liebe und Speisen trotz ihrer unmittelbaren Freuden ein Moment unerwarteter Komplexität darstellen können.

Einige Kollegen hätten sich vielleicht in den letzten Jahren eine große Veröffentlichung von ihm gewünscht, ein Opus magnum, das als Summa seines Wissens gelten könnte.

Aber ich denke jetzt, mein Damen und Herren, dass wir in diesem Fall auf Gedrucktes verzichten können. Es ist in der Tat hier versammelt, sein Opus magnum, die Gesamtheit seiner Schüler, in deren Leben er mit seinem Wissen, seinem Denken und seiner scharfen Ironie nachhaltige Spuren hinterlassen hat. Und diese Hinterlassenschaft lohnt es sich ohne Zweifel zu pflegen und fortzusetzen.