Nachruf auf Manfred Angerer

Wolfgang Fuhrmann

In der Nacht vom 18. auf den 19. April 2010 ist Manfred Angerer, außerordentlicher Universitäts-Professor am Institut für Musikwissenschaft der Universität Wien, völlig unerwartet gestorben. Sein Tod löste Fassungslosigkeit und Bestürzung aus, bei der Fachwelt, bei seinen Kolleginnen und Kollegen, bei den vielen Studierenden, die sich ihm verpflichtet fühlen.

Forschung und Lehre, die beiden Säulen der Universität, fanden sich in Manfred Angerer in eigentümlicher Weise verknüpft. Man kann sagen: Er lehrte forschend, und vielleicht auch: Er lehrte denken. Wer seinen Lehrveranstaltungen folgte, dem wurde nicht fertiges Wissen vermittelt oder abverlangt, sondern die geistige Beweglichkeit, einem Denken zu folgen, das nicht nur scheinbar unantastbare Voraussetzungen und Denkpflichten des Fachs, sondern jederzeit und beinahe leichtfüßig auch sich selbst in Frage stellen konnte. Angerers Denken kreiste stets um die Musik selbst, insbesondere die der europäischen Tradition vom 18. bis zum 21. Jahrhundert, und um das grundlegende (und eben deswegen oft übersehene) Problem, wie weit wir Musik mit wissenschaftlichem Instrumentarium analysieren und verstehen können, oder ob dieses wissenschaftliche Instrumentarium und die nicht immer vorteilhaften Entwicklungen des modernen Musiklebens uns nicht eher den Zugang verstellen. Ob Begriffe zum Unbegrifflichen der Musik vordringen könnten, diese immer wieder neu in Angriff genommene Fragestellung speiste sich wohl nicht zuletzt aus den Erfahrungen des Musizierens selbst; Angerer verfügte über beachtliche pianistische Fähigkeiten.

Nichtsdestoweniger verweigerte sich Angerer auch hier jeder dogmatischen Festlegung. Seine Skepsis – antikisch gesprochen: sein Pyrrhonismus – erstreckte sich eben auch auf sich selbst. Seine Schüler forderte er zum selbstständigen Denken heraus und führte in seinen Lehrveranstaltungen ein Denken vor, das niemals nötig hatte, die Autorität hervorzukehren, die ihm aufgrund eines reichen Bildungshintergrunds durchaus zugestanden hätte. Manfred Angerer diskutierte stets auf Augenhöhe. Auch seine wissenschaftlichen Schriften haben etwas im besten Sinn Provokantes, fragen in sprachlich eleganter und intellektuell beziehungsvoller Weise nach der Musik und ihrer Wissenschaft, mit einer ironischen Insistenz, hinter der sich, wie so oft, ein Herzensanliegen verbarg.

Manfred Angerer wurde am 15. Oktober 1953 in Pöchlarn (Niederösterreich) geboren, wo er das Humanistische Gymnasium besuchte. Seit 1970 studierte er an der Wiener Musikhochschule im Konzertfach Klavier, seit 1972 an der Universität Wien Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Philosophie. 1979 promovierte er mit der Studie „Musikalischer Ästhetizismus. Studien zu Skrjabins Spätwerk“ (die 1984 im Druck erschien). Nach einer Zeit als Mitarbeiter, später als Redakteur der Österreichischen Musikzeitschrift und Lektor im Elisabeth-Lafite-Verlag wurde er 1981 Assistent von Walther Pass am Musikwissenschaftlichen Institut und 1984 dort Lektor. 1990 habilitierte er sich mit der Arbeit „Die Rationalität des Populären. Große symphonische Form und Liedthematik bei Joseph Haydn“. Daneben entstanden zahlreiche Schriften, die ein weites thematisches Feld (zum Beispiel Gluck, Beethoven, Berlioz, Mussorgsky, Furrer – und immer wieder Liszt, Berg und Webern) umschreiben, immer wieder aber auch auf grundsätzliche Probleme der Analyse, Stilkritik, Hermeneutik und Ästhetik im Fach zu sprechen kamen.

Mit Manfred Angerer hat die Musikwissenschaft nicht nur einen klugen und scharfen Denker, sondern auch einen noblen Menschen verloren. Wir trauern um ihn und empfinden tiefes Mitgefühl mit den Hinterbliebenen.