Historismus und die Wiener Musikkultur des Nachmärz und der Ringstraßenzeit

FWF-Projekt V 712-G26 (Elise-Richter-Programm)
Projektlaufzeit: 2019–2024
Leitung: Dr. Markéta Štědronská

 

Die Pflege der Alten Musik hatte in Wien eine lange Tradition, die spätestens seit dem Vormärz mit einer restaurativ geprägten, im Zeichen des Historismus stehenden Alte-Musik-Bewegung einherging. Das Aufkommen des Historismus im vormärzlichen Wien ist insbesondere mit Raphael Georg Kiesewetter – dem „Wegbereiter des musikalischen Historismus“ – eng verbunden. Bezogen auf die Perioden des Nachmärz und der Ringstraßenzeit wirkt diese Apostrophierung jedoch etwas paradox, zumal über die „Wege“ des Historismus nach Kiesewetters Tod bis heute nur wenig bekannt ist. Das Forschungsprojekt untersucht folglich die Entwicklung vom Ende der Pionierära um 1850 bis in die frühen 1890er Jahre, in denen der Historismus zunehmend eine institutionelle Untermauerung erfahren hat und eine neue Generation, repräsentiert u. a. durch Guido Adler und Eusebius Mandyczewski, die Szene betrat. Im Fokus steht die Alte Musik an sich bzw. ihre Präsenz im Wiener Konzertleben; der Historismus als Stilbegriff rückt hingegen in den Hintergrund. Die Ausgangsidee des Projekts ist das Wissen um eine kontinuierliche Intensivierung der Alte-Musik-Rezeption nach 1850, doch wird das Historismus-Phänomen nicht so sehr als teleologischer Entwicklungsprozess, sondern vielmehr als „Problemgeschichte“ behandelt. – So deutet auch der Titel „Historismus und die Wiener Musikkultur“ auf ein Spannungsverhältnis hin, welches für die Donaumetropole, die sich zugleich als Stadt der Wiener Klassik profilierte, kennzeichnend war.

Das Ziel des Projekts ist es, die Wiener Alte-Musik-Szene hinsichtlich der Träger, Aufführungsstätten und des Repertoires zu rekonstruieren und vor dem Hintergrund der Situation vor 1850 auszuwerten. Darüber hinaus sollen unter der Berücksichtigung der zeitgenössischen Aufführungspraxis und des ästhetisch-kritischen Diskurses um die Alte Musik die charakteristischen Aspekte der Wiener Alte-Musik-Rezeption herausgearbeitet werden. Gerade durch die sehr umfassende theoretische Reflexion kommt im Vergleich zur Situation des Vormärz ein neuer wichtiger Aspekt ins Spiel. Das Projekt will den Diskurs um die Alte Musik möglichst komplex behandeln und so die Hypothese von einer facettenreichen, über die Kontroverse zwischen Eduard Hanslick und Johannes Brahms weit hinausgehenden Alte-Musik-Rezeption bestätigen. Neben den zeitgenössischen Presseberichten, die die Hauptquelle bilden, stützt sich das Projekt auf diverse Essays, Streitschriften, das (hauptsächlich in Form von zeitgenössischen Editionen überlieferte) Notenmaterial und sonstige Nebenquellen wie etwa schriftliche Korrespondenzen. Es ist das Anliegen der Arbeit, die Wiener Musikkultur des Nachmärz und der Ringstraßenzeit in die wissenschaftliche Debatte rund um den Historismus viel enger einzubinden und somit Voraussetzungen für eine weiterführende Forschung, u. a. für die Untersuchung der historisierenden Kompositionspraxis im Wien der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, zu schaffen.