16. Mai – 18:00 Uhr – Hörsaal 1 des Instituts
Die historische Hörforschung der vergangenen 20 Jahre hat sich immer wieder der Herausbildung des stillen, konzentrierten Hörens des 19. Jahrhunderts gewidmet, das nach wie vor gültige Standards für das Konzert-Hören gesetzt hat. Die Genealogie dieses Hörens wird meist auf einen „Paradigmenwechsel“ (C. Dahlhaus) oder „great divide“ (L. Goehr) um 1800 zurückgeführt, der mit dem Auftreten Beethovens und der autonomen Instrumentalmusik in Verbindung steht. Die seltenen hörhistorischen Ansätze zu einer phänomenologischen Differenzierung dieses stillen Hörens stellen es meist in den Zusammenhang des Strukturhörens, das von Eduard Hanslick gewissermaßen nachträglich eingefordert wurde.
In meinem Vortrag möchte ich eine alternative Möglichkeit anbieten, die phänomenologische Binnenstruktur des stillen, konzentrierten Hörens zu verstehen. Bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, so möchte ich argumentieren, bildet sich eine Tendenz zum räumlich-transzendenten, zum immersiven Hörerleben heraus, das in Teilen die Züge der religiösen Ekstase trägt. Es geht weniger mit der Sinfonik der Wiener Klassik als mit der norddeutsch-protestantischen Rezeption römischer Kirchenmusik einher und wächst sich bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu einem regelrechten Hördiskurs (Kaltenecker) aus. Das Narrativ eines Paradigmenwechsels relativierend möchte ich darlegen, wie diese Form der musikalischen Immersion sich u. a. durch die sinnliche und individuelle Frömmigkeitskultur der Mystik und des Pietismus historisch vermittelt.
Anne Holzmüller ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Freiburg. Studium der Schulmusik, Germanistik und Klavier in Freiburg und Krakau; 2011/12 Visiting Fellow an der Harvard University; 2013 Promotion „Lyrik als Klangkunst“ (Freiburg: Rombach 2015); seit 2017 Leitung des Teilprojektes „Muße und musikalische Immersion“ im SFB 1015 „Muße“; 2017–18 Junior Fellow am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS); Forschungsschwerpunkte: historische Hörforschung, Musikästhetik um 1800, Liedforschung, Musik und Sprache.