Montag, 26. Juni 2023 – 19:00 Uhr – Institut für Musikwissenschaft, Hörsaal 1
Die Bücher, Musikalien und Handschriften, die Johannes Brahms im Laufe seines Lebens gesammelt hat, geben Aufschluss über die Vielfalt der Interessensgebiete des Komponisten. Es handelt sich um eine beeindruckende Musikbibliothek, die die mannigfaltigen sowohl historischen als auch literarischen Interessen ihres ehemaligen Besitzers spiegelt. Der Archivar Eusebius Mandyczewski stellte 1904 die enge Beziehung von Brahms zu seiner Sammlung heraus: „Er liebte seine Bücher als seine treuesten Freunde; sie hatten ihn gefördert, ihm in einsamen Stunden die edelste Gesellschaft geboten, ihn gehoben, getröstet, erfreut und erheitert.“ In der Bibliothek finden sich zahlreiche Zimelien, die schon allein den Charakter von Weltdokumentenerbe tragen: Unter den Autographen sind Handschriften von Mozart, Haydn, Schubert, Robert und Clara Schumann sowie Skizzen von Beethoven besonders hervorzuheben. Diese wertvolle und einzigartige Sammlung hat sich bis heute im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde fast vollständig erhalten.
Dieser Vortrag befasst sich mit dem „Leben“ der Brahms-Bibliothek nach dem Tod des Komponisten. Immer wieder sind Versuche unternommen worden, diese private Bibliothek geschlossen oder in Teilen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Den zeitlichen Rahmen bilden zwei Ereignisse im 20. und frühen 21. Jahrhundert: Der frühe Streit um den Brahms-Nachlass im Wiener Gerichtssaal im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts und die Aufnahme der Brahms-Sammlung des Archivs der Gesellschaft der Musikfreunde in das „Memory of the World-Register“ der UNESCO im Jahre 2005. Während dieser Zeitspanne wurden Brahms‘ Bücherregale mehrfach in Zeitschriften beschrieben und vor der Übernahme der Bestände in das Archiv fotografiert und gemalt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Bibliothek Teil eines provisorischen Museums in Brahms‘ ehemaliger Wiener Wohnung in der Karlsgasse. 1933 wurden Bücher, Partituren und Handschriften aus der Sammlung in Vitrinen im Kontext einer Brahms-Zentenar-Ausstellung gezeigt. Im Mittelpunkt der Betrachtung der wechselvollen Geschichte der Brahms-Bibliothek stehen zwei zentrale Fragen: Wie wandeln sich die Darstellungen der Bibliothek im Laufe des vergangenen Jahrhunderts – und welche Möglichkeiten der Begegnung mit dem verstorbenen Komponisten kann sie ermöglichen?
Dr. Reuben Phillips ist British Academy Postdoctoral Fellow an der University of Oxford und Ernst-Mach Stipendiat am musikwissenschaftlichen Institut der Universität Wien. Er wurde an der Princeton University promoviert und ist Autor wissenschaftlicher Fachartikel für die Zeitschriften Musical Quarterly, Music & Letters, Journal of the Royal Musical Association und 19th-Century Music. Seine Dissertation wurde mit der Karl Geiringer Scholarship der American Brahms Society ausgezeichnet. Phillips ist Mitherausgeber des 2022 erschienenen Sammelbandes Rethinking Brahms (Oxford University Press).