Keynote-Lecture: Datum – Faktum – Fiktum. Über Möglichkeiten der Musikhistoriographie
Hermann DANUSER, Berlin
Es wäre gewiss möglich und sinnvoll, die drei genannten Begriffe, die sich mit „Quelle – Tatsache – Erzählung“ grob einordnen ließen, und ihr variables Verhältnis zueinander im Lichte von Carl Dahlhaus‘ Historik (Grundlagen der Musikgeschichte, 1977) zu untersuchen und damit zur weltweit aufblühenden Dahlhaus-Forschung einen Beitrag zu liefern. Dahlhaus, der mehr als andere über Faktizität und Fiktionalität bei Musikgeschichtsdarstellung nachgedacht hatte, bestand – im Gegensatz zu einer schlechten Unendlichkeit des Möglichen – auf einer vernünftigen Praktikabilität der vom Historiker getroffenen, narrativ ausgeführten und nicht bloß postulierten Planung. Wenn Musikhistoriographie sich nicht in Quellenforschung und Annalistik erschöpfen soll, sondern die reflektierte Erzählung von Faktenzusammenhängen erstrebt, wird es unabweisbar, quellen- wie faktengestützte, mit Verknüpfungsfreiheit operierende Erzählweisen von rein fiktiven, erfundenen Darstellungen zu unterscheiden. In diesem Vortrag möchte ich aber keine allgemeine Theorie der Musikhistoriographie, auch keine Metahistorik, entwickeln, welche Gefahren der Abstraktion zu bannen hätte. Vielmehr will ich im Rückblick auf mittlerweile vier Jahrzehnte eigene Tätigkeit als Musikologe an verschiedenen Beispielen (von Musikalische Prosa bis Metamusik) zeigen, wie und warum ich bestimmte konzeptionelle Entscheidungen getroffen habe – immer bemüht, tradierte, gar mechanische Strategien zu vermeiden und als Historiograph auf neuen Wegen die Musik nie aus dem Blick zu verlieren.
Biographische Notiz
Hermann Danuser, geb. 1946, studierte ab 1965 Musik (Oboe, Klavier), Musikwissenschaft, Philosophie und Germanistik in Zürich (Promotion 1973), übersiedelte dann nach Berlin, wo er sich 1982 an der Technischen Universität habilitierte (Die Musik des 20. Jahrhunderts, 1984). Er lehrte darauf in Hannover und Freiburg im Breisgau; seit 1993 hat er an der Humboldt-Universität zu Berlin den Lehrstuhl für Historische Musikwissenschaft inne. Er koordiniert zudem die Forschung der Paul Sacher Stiftung Basel, ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften sowie des Kuratoriums der Ernst von Siemens-Musikstiftung. Seine Hauptinteressen liegen in der neueren und neuesten Musikgeschichte, Historiographie, Ästhetik, Theorie, Analyse und Interpretationsforschung. Das Buch Weltanschauungsmusik erschien 2009, eine vierbändige Edition Gesammelte Vorträge und Aufsätze, hrsg. von Hans-Joachim Hinrichsen, Christian Schaper und Laure Spaltenstein, ist im Druck. Zu seinem 65. Geburtstag erschien 2011, hrsg. von Camilla Bork u. a., die Festschrift Ereignis und Exegese. Musikalische Interpretation – Interpretation der Musik.