Vortrag: Eine Geschichte, keine Geschichte, Anti-Geschichte. Anmerkungen zur curricularen Demontage von Historiographie
Christoph FLAMM, Klagenfurt
In der deutschsprachigen Hochschullandschaft ist, so scheint es mit Blick in die Curricula und Selbstdarstellungen der heutigen musikwissenschaftlichen Studiengänge, das Unterrichten von musikgeschichtlichem Grundwissen ein oftmals marginalisierter, mitunter offen kritisierter oder sogar ironisierter Bestandteil der Lehre. Als mitunter auf nur zwei Semester eingeschrumpfte Überblicksvorlesung, der damit das propädeutische Fliegengewicht der Harmonielehre zukommt, oder als sogar ganz dem autodidaktischen Zeitvertreib den Studierenden anheimgestellte Pflichtübung ist die Vermittlung grundlegender musikhistorischer Kenntnisse offensichtlich nur noch in Ausnahmefällen ein Kernelement des Studiums. Da es, so der Tenor eines derzeitigen einschlägigen Studienganges, kein einzelnes Narrativ von Musikgeschichte mehr geben könne, verzichtet man also besser ganz aufs Erzählen. Der Studierende wird nicht mit (vermeintlichem) Faktenwissen konfrontiert, sondern gleich mit dessen diskursiver Erörterung oder Dekonstruktion.
Dieses Verstummen der Musikhistoriker ist nicht nur aus pädagogischer und didaktischer Sicht problematisch. Es wirft auch ein bezeichnendes Licht auf das Verständnis von Musikgeschichte insgesamt. Die Zurückhaltung gegenüber Lehrbuchwissen oder gar kontinuierlich erzählter Musikgeschichte ist bekanntlich in anderen Ländern weniger verbreitet oder diesen ganz fremd. Der implizite Vorwurf, dass solche Werke die Wissensstrategien oder das Reflexionsniveau heutiger Kulturforschung nicht einhalten können oder gar zur Denkfaulheit führen, wirkt angesichts solcher Schriften wie Richard Taruskins Oxford History of Western Music unbeholfen, wenn nicht arrogant. Zwischen der bisweilen extremen Wissensarmut heutiger Studienabsolventen und dem Wunsch nach kritischer Hinterfragung wohlfeiler Geschichtsmodelle klafft eine Lücke, mit der wir uns auseinandersetzen sollten. Das muss nicht zwingend bedeuten, zu einfachem Handbuchwissen zurückzukehren. Wie wäre es, statt einer einzigen Geschichte oder einer unübersehbaren Vielzahl von Teilgeschichten eine Art von Gegen-Geschichte zu erzählen – beispielweise die Geschichte der Musik als konservativem Kulturprodukt, also eine „Geschichte des konservativen Komponierens“ (im Gegensatz zur nach wie vor üblichen Fortschrittsperspektive)? Solche oder ähnliche alternative Historiographien könnten Vermittlung von Faktenwissen mit Denkanregung verknüpfen. Es wäre ein erster Schritt gegen das eigene Verstummen und zur Urbarmachung jener Wikipedia-Brache, die in den Köpfen vieler unserer Studierenden herrscht.
Biographische Notiz
Geboren 1968, Studium der Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Germanistik in Heidelberg. 1996 grundständige Promotion (Der russische Komponist Nikolaj Metner. Studien und Materialien, Berlin 1995). 1994–2001 wissenschaftlicher Redakteur in der Schriftleitung der Enzyklopädie Die Musik in Geschichte und Gegenwart im Bärenreiter-Verlag Kassel. 2001–2004 wissenschaftlicher Angestellter an der Musikgeschichtlichen Abteilung des deutschen Historischen Instituts in Rom. 2004–2006 Forschungsstipendiat der DFG. 2007 Habilitation an der Universität des Saarlandes (Ottorino Respighi und die italienische Instrumentalmusik von der Jahrhundertwende bis zum Faschismus, Laaber 2008); 2007–2011 ebendort Mitarbeiter (Privatdozent) am musikwissenschaftlichen Seminar. 2011–2012 Gastprofessor (Vertretungsprofessur) an der Universität der Künste Berlin. Seit März 2013 Professor für Angewandte Musikwissenschaft an der Alpen-Adria Universität Klagenfurt. Forschungen, Publikationen und Noteneditionen hauptsächlich zur russischen und italienischen Musik. Zuletzt erschienen und erscheinend: Mussorgsky, Bilder einer Ausstellung. Erinnerung an Viktor Hartmann, Urtext (hrsg.), Kassel 2013; Umbruchzeiten in der italienischen Musikgeschichte, hrsg. mit Roland Pfeiffer, Kassel 2013 (Analecta musicologica 50); Russian Émigré Music: Conservatism or Evolution?, hrsg. mit Roland Marti und Henry Keazor, Cambridge 2013; Strawinsky: Der Feuervogel – Petruschka – Le Sacre du printemps, Kassel 2013 (Bärenreiter Werkeinführungen).