Vortrag: Die andere Geschichte. Anmerkungen zur mittelalterlichen Musikgeschichte

Max HAAS, Zürich

Es scheint, dass man sich beim Schreiben zur Musikgeschichte des Mittelalters für einen von zwei Wegen entscheiden muss: man lässt sich von  einem vorherrschenden Musikbegriff – etwa: „Musik als performative Kunst“ ist auf „die klangliche Verwirklichung angewiesen“ (Wolfgang Fuhrmann) – leiten und transferiert mittelalterliche Stücke in wohlbekannte Klangwelten. Man nimmt in diesem Fall Objekte aus der Geschichte und bugsiert sie ins eigene musikalische Haus. Oder man orientiert sich an Usanzen der mediaevistischen Forschung und entfernt sich damit von gängiger Musikgeschichtsschreibung. Denn in diesem Fall ist vor der klanglichen Verwirklichung die Frage drängend, von welchen Prämissen sich die Mittelalterlichen selber leiten ließen. In meinem Referat möchte ich diese zweite Möglichkeit anhand dreier Beispiele skizzieren und daran paradigmatisch verdeutlichen, wie die Musik unverwirklicht in die Geschichte kommt. Meine Beispiele sollen geschichtstheoretische Aspekte exemplifizieren, die seit Michel Foucault und Pierre Bourdieu geläufig sind. Dabei geht es um folgende Gesichtspunkte: (1) was meint „Musik“ in der Sicht des Mittelalters? (2) was für Vorstellungen leiten das Komponieren? und (3) was passiert, wenn es nicht um das Produkt (das „Werk“), sondern um das Produzieren geht?

Biographische Notiz

*1943. Studium Musikwissenschaft, Kirchen- und Dogmengeschichte, slavische Philologie in Basel und Heidelberg. Promotion 1970 (Handbuchbeitrag byzantinische und slavische Notationen); Habilitation WS 1976/77 (mittelalterliche Musiktheorie und Scholastik); 1982 a.o.Prof. Uni Basel. Leiter des Mikrofilmarchivs 1970-1988, seit 1982 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dozent am Musikwissenschaftlichen Institut der Uni; daneben Lehrtätigkeit an der Universität von Bar Ilan (Tel Aviv) und am Graduate Department der City University of New York. Emeritiert 2005. Letztes Buch: Musikalisches Denken im Mittelalter. Eine Einführung (Bern etc. 2005, 2. Aufl. 2007). Arbeitet jetzt vor allem über die Geschichte der frühen Notationen und über analytische Möglichkeiten des mündlichen Tradierens.