Abstracts

Stefan Fricke: „Fluxus ante Portas“. Das IGNM-Fest 1960 in Köln, Strahlkraft bis heute

(Nicht nur) In der Geschichte der 1922 gegründeten Internationalen Gesellschaft für Neue Musik ist deren 34. Weltmusikfest, das 1960 in Köln stattfand, von exzeptioneller Bedeutung. Es war – nicht nur rückblickend, schon die Zeitzeugen erkannten das – eine der spannendsten Veranstaltungen zeitgenössischer Musik in der BRD. Programmiert waren mit u.a. Berio, Boulez, Hambraeus, K. Huber, Kontonski, Nono, Pousseur prominente Persönlichkeiten der Nachkriegsavantgarde; zudem gab es – in der IGNM-Historie nach 1945 selten genug – wegweisende Uraufführungen von Kagel („Anagrama“), Ligeti („Apparitions“), Stockhausen („Kontakte“). Drei State-of-the-Art-Arbeiten der damaligen Kunstklangproduktion –, die seither musikgeschichtlich wirken. Und – das gab es so zuvor und danach nicht in der Geschichte der IGNM – andere Protagonisten der Neue-Musik-Szene setzen dem Weltmusikfest ein kräftiges Kontra entgegen. Der Komponist Sylvano Bussotti, der Musiktheoretiker Heinz-Klaus Metzger, der Schriftsteller Hans G Helms und die Künstlerin Mary Bauermeister organisierten in Bauermeisters Atelier in der Kölner Altstadt für die Tage des Weltmusikfests, das vor allem im WDR-Funkhaus stattfand, ein „Contre-Festival“: u.a. mit Werken von George Brecht, John Cage, Toshio Ichiyanagi, La Monte Young, Nam June Paik, Ben Patterson. Denn als zu etabliert, zu akademisiert, zu institutionalisiert empfanden sie die IGNM, die keinen Sinn und Platz hatte für Alea und Unbestimmtheit, für Performance und Intermedia, für Manifeste und Experimente. Gerade die im Atelier Bauermeister präsentierten Werke erwiesen sich als erste arrivierte Positionen und entscheidende Impulse für künftige ästhetische Ideen und Konzepte: „Fluxus ante portas“. Wie all diese gegenstrebigen Ästhetiken am Rhein um 1960 ineinandergreifen und welches, bis heute nachwirkendes Potential sie entfaltet haben, ist Thema meines Vortrags. Das IGNM-Fest 1960 in Köln entwickelte wie wohl kein anderes Weltmusikfest künstlerische Zukunftsbilder, die keine Utopie geblieben sind.


CV:
Stefan Fricke, geboren 1966 in Unna (Westf.), studierte nach dem Zivildienst Musikwissenschaft und Germanistik an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken.1989 Mitbegründer des auf Literatur zur zeitgenössischen Musik spezialisierten Pfau-Verlages (www.pfau-verlag.de). Mehrfach war er u.a. Dozent bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik Darmstadt. Er ist Redaktionsleiter Neue Musik | Jazz | Klangkunst beim Hessischen Rundfunk (hr2-kultur) in Frankfurt am Main und lehrt als Honorarprofessor an der Hochschule für Musik Mainz der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Gemeinsam mit dem türkischen Komponisten und Musikologen Alper Maral realisierte er 2021 für die Donaueschinger Musiktage die permanente Klanginstallation „Am Grabe | Aus der Ferne“ (Karlstraße 58). Von 2001 bis 2011 Vizepräsident der Deutschen Sektion der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (IGNM/ISCM). Mitherausgeber der MusikTexte.

Germán Gan-Quesada: A “Spanish voice” in the international Avant-garde counterpoint. The Spanish Section of the ISCM during the second half of the Franco regime (1955-1976)

After nearly two decades of ostracism, the Spanish Section of the ISCM (ISCM-SS) was readmitted to it in June 1955. To composers, the main interest in the manifold ISCM-SS tasks was the yearly chance to be preselected as representatives of the country at the ISCM festivals, for it implied an international recognition hardly to achieve another way, should their compositions make a place for themselves in the festivals’ final programmes.

Under the chairmanship of Óscar Esplá until his death in January 1976, the ISCM-SS committee adopted rather erratic criteria in its preselection process. It wavered between the preference for obsolete aesthetic trends – clearly and publicly defended by Esplá himself – and the need for exhibiting a fully up-to-date development of Spanish composition. As the 1960s passed by, this second option seemed to gain ground, accordingly to the eagerness for international approval aimed for by the official cultural agencies of the Franco regime. The 1965 ISCM Festival was, thus, held in Spain, and compositions by leading figures of the Spanish Avant-garde music [Cristóbal Halffter, Luis de Pablo, Carmelo Bernaola, Agustín Bertomeu, Enrique Raxach, and Tomás Marco] were finally selected for their performance at the ISCM festivals.

The significance of the ISCM-SS to Spanish 20th-century music has been largely neglected by researchers, but for scattered references in historical overviews and composers’ biographies.  My paper aims to provide a preliminary approach to its first two decades of activity, based on documentary sources from the personal archives of several members of its committee, the analysis of the press reception of its initiatives, and the evaluation of the annual preselection lists submitted by the ISCM-SS to the international jury of the ISCM festivals.

 

CV:
Germán Gan-Quesada is Tenured Associate Professor in Musicology at the Universitat Autònoma de Barcelona and Editor-in-chief of the Revista de Musicología. His research topics focus on 20th-Century Spanish Music and Contemporary Music Aesthetics. He has been Main Researcher of the Research Project Music and Dance in Sociocultural, Identity and Political Processes during the Second Francoism and the Democratic Transition (1959-1978) [Spain. Ministry of Science and Innovation, 2019-2022], and, among other publications, responsible for the chapters on Spanish Music during the Franco regime for the publishing houses Fondo de Cultura Económica (2012) and Cambridge University Press (forthcoming).

Kim Feser: Musik im Zeitalter ihrer künstlichen Produzierbarkeit

Die Entwicklung künstlicher Intelligenz verläuft auch im Bereich der Musik rasant: Wird selbstlernende Software, die anhand großer Datenmengen mit dem Archiv der musikalischen Geschichte und Gegenwart trainiert wird, bald in der Lage sein, nicht nur bekannt wirkende gleichförmige Gebrauchsmusik, sondern auch überzeugend „neu“ klingende Kunstmusik hervorzubringen? Werden nun Musiker:innen und Komponist:innen überflüssig?

Angesichts solcher dystopischer Szenarien gerät manchmal die Banalität aus dem Blick, dass auch eine maschinell lernende generative Musiksoftware kein eigenständiges Subjekt ist, sondern in einem komplexen Netzwerk von Menschen und Computern situiert ist: Ihr Quellcode wird permanent optimiert, der Input von Daten wird vorsortiert, deren Ducharbeitung überwacht und reguliert, der Output bewertet und auf spezifische Weise wieder neu eingespeist – und ggf. ein bestimmter Teil dann als „Musik“ veröffentlicht.

Anstelle einer völligen Ablösung menschlicher Tätigkeit findet somit eine tiefgreifende Umformung von Arbeitsteilung statt: zwischen kreativer und repetetiver menschlicher Arbeit sowie Computer-Prozessen. Dies hat einerseits soziale Implikationen, die insbesondere die Situation ökonomisch prekärer Datenarbeiter:innen und die Problematik der Verarbeitung geistigen Eigentums ohne Erlaubnis oder Vergütung betreffen. Andererseits kann diese Form der digitalen Neugestaltung des musikalischen Kompositionsprozesses als Radikalisierung von Tendenzen verstanden werden, die in der elektronischen Musik seit ihren Anfängen virulent sind.

So ist die Konstruktion von und der Umgang mit Synthesizern, Sequenzern und Samplern vom Phänomen halbautomatischer Prozesse geprägt, also von manuellen Eingriffen in laufende maschinelle Abläufe. Im Zuge dessen wurde der Fokus immer mehr auf das Interface von Hard- und Software gelegt. Denn entscheidend ist weniger, was die Geräte „für sich“ können, sondern wie die Eingriffsmöglichkeiten gestaltet sind, auf welche Weise In- und Output reguliert und verschiedene Phasen der Klanggestaltung moduliert werden können.

Einem Diskurs über „unmenschliche Maschinenmusik“ stand also schon immer die konkrete Praxis der Interaktion von Menschen mit den von ihnen entwickelten Musikmaschinen gegenüber. Die Geschichte der technischen Entwicklung und ästhetischen Nutzung elektronischer Musikgeräte kann somit auch eine kritische künstlerische und soziale Perspektive auf den Umgang mit generativer KI-Software informieren, ohne sich von der gegenwärtigen Dynamik des Diskurses erdrücken zu lassen.

 

CV:
Kim Feser, derzeit Lehraufträge für Musikwissenschaft und interdisziplinäre Formate an der Freien Universität Berlin, der Universität der Künste Berlin sowie der Hochschule Macromedia Berlin. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Grenz­bereiche von experimen­teller Avant­garde, Sound Art, Pop- und Club-Musik; Geschichte der Konstruktion und Nutzung von Synthesizern und Sequenzern; Musikphilosophie (insbesondere Theodor W. Adorno und Gilles Deleuze). Mitherausgabe des Bandes „Techno Studies. Ästhetik und Geschichte elektronischer Tanzmusik“ (Berlin 2016), 2011–17 Wissenschaftliche Mitarbeit im DFG-Projekt „‚Ereignis Darmstadt‘. Die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik 1964–1990 als ästhetischer, theoretischer und politischer Handlungsraum“ (Universität der Künste Berlin).

Assaf Shelleg: Aspiring for Oral Affordances

Oralities in contemporary compositional practice refer to everything that is least dependent on musical literacy and that does better than written texts – everything from the spawning and concatenating of variants in a non-hierarchical manner, to unwritten actions carved in sound rather than on a score. Oralities of this kind, or the manner by which contemporary compositional praxis aspires for their condition, are increasingly evident in works by Chaya Czernowin, Betty Olivero, or Heiner Goebbels (to name but a few), who continue to negotiate such affordances through unavoidably new formats of musical literacy. But given the socioethnic order embedded in the idea of Western musical literacy, which allocated oral musical traditions to the lower rungs of self-made Western hierarchies, aspirations for oral affordances in contemporary musics resulted in new adjacencies between musical literacy and oral musical traditions (whose very transmission had been continuously jeopardized by modernity). While historically, the adjecancy of ethnographic imports and musical literacy has facilitated the evolution of the latter, contemporary contiguities of this kind steer composers away from ethnographic sources and into simulating their unmarked mechanisms and elasticities.

 

CV:
Assaf Shelleg, a professor of Musicology at the Hebrew University of Jerusalem, is the author of  the awards-winning book Jewish Contiguities and the Soundtrack of Israeli History (Oxford University Press, 2014) and Theological Stains: Art Music and the Zionist Project (Oxford University Press, 2020).) A German translation of Jewish Contiguities was published by Mohr Siebeck in 2017, and a German translation of Theological Satins is forthcoming with LIT Verlag. Shelleg is the current director of the Cherrick Center for the Study of Zionism, the Yishuv, and the State of Israel at the Hebrew University of the Jerusalem; he is a music contributor for Haaretz, and was a curator for the Israel Philharmonic Orchestra.

Ellen Freyberg: Amalgamierung, Assemblage, Annäherung an Wissenssysteme. Kompositorische Strategien der Aneignung in transkulturellen Kontexten am Beispiel von no windows without a wall von Christopher Trapani und How forests think von Liza Lim

Viele musikalische Innovationen der Neuen Musik resultieren aus der Begegnung mit "fremden" Kulturen. Die scheinbar grenzenlose Mobilität in der Moderne und der vergleichsweise leichte Zugriff auf musikalische Artefakte anderer Kulturen im digitalen Zeitalter haben immer wieder für Innovationsschübe gesorgt und maßgeblich zur Ausdifferenzierung der musikalischen Sprachen beigetragen. Das kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich dabei auch toxische Formen der kulturellen Aneignung etabliert haben, die sich durch eine weitgehend unreflektierten und empathielosen Aneignung musikalischer Artefakte oder Techniken kolonisierter oder/und marginalisierter Ethnien auszeichnen. Mehr oder weniger unbewusst perpetuieren sie ein hegemoniales Ungleichgewicht zwischen dem globalen Norden und Süden, das aus einer jahrhundertelangen Kolonialpolitik hervorgegangen ist und heute zu Recht in der Kritik steht. Vor dem Hintergrund dieser Debatte beschäftigt sich der Vortrag mit der Frage, wie im postkolonialen Zeitalter eine sozial-, kultur- und geschichtssensitive Begegnung mit fremden Kulturen aussehen kann. Am Beispiel der Ensemblekomposition no windows without a wall (2022) des amerikanisch-italienischen Komponisten Christopher Trapani wird das kompositorische Verfahren untersucht, mit dem Sounds unterschiedlichster "Welt"-Kulturen zu einem multikulturellen Stilmix amalgamiert werden, um dann Trapanis Konzept der "Weltmusik" kritisch zu hinterfragen. Liza Lims ebenfalls für Ensemble entstandenes Werk How forests think (2016) ist das Ergebnis einer jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit der kolonialen Geschichte und Kultur der Aborigines, die gerade nicht zu einer simplen Übernahme ethnischer Sounds führte. Wie die analysierten Beispiele zeigen, vollzieht sich die musikalische Sprachfindung vielmehr als eine sozial-, kultur- und geschichtssensitive "Annäherung an das Wissenssystem" dieser uralten Kulturen, bei der die Rolle der Komponistin mitreflektiert wird. 

 

CV:
Ellen Freyberg studierte in Berlin, Basel und München Historische Musikwissenschaft, Linguistik und Literaturwissenschaft. Sie arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Internationalen Bachakademie in Stuttgart und an den Musikhochschulen in Hamburg und Stuttgart, als Dramaturgin und Konzertmanagerin beim Musikpodium Stuttgart, anschließend als freie Journalistin, Dramaturgin und Autorin. 2017 wurde sie an der Ludwig-Maximilians-Universität mit einer Arbeit über die Musikalische Lyrik Aribert Reimanns promoviert. Von 2019 bis 2022 arbeitete sie in einem DFG-finanzierten Forschungsprojekt zum Topos der Nacht in der Musik der Moderne und Postmoderne. Seit 2021 Lehraufträge an der LMU und an der Musikhochschule Nürnberg. Veröffentlichungen zur Musikalischen Lyrik, musikwissenschaftlichen Genderforschung und zur Nacht-Topik bei Arnold Schönberg.        

Nina Polaschegg: (Kunst)Musikschaffen anders denken – neue und zugleich alte Ansätze

Unser Kunstbegriff ist bekanntlich wenige hundert Jahre alt. Der Werkcharakter, den Carl Dahlhaus streng umrissen definiert hatte und dem Jahrzehnte lang gefolgt wurde, bekanntlich längst veraltet und ebenfalls nur auf Musik eines eng umrissenen Zeitalters zutreffend. Zeitgenössische (Kunst)Musik gibt sich oft gesellschaftlich tolerant, egal ob in wissenschaftlichen, journalistischen oder KünstlerInnen -Diskurse. Doch wie tolerant sind diese Debatten eigentlich? Wie sehr kreisen sie nicht seit vielen Jahrzehnten mehr oder weniger in sich selbst?

Improvisation ist eine uralte Form des Musikschaffens. Sei es das regelgeleitete Improvisieren in diversen Kulturen, dem Jazz, aber auch der westlichen Kunstmusik bis weit in die Klassik hinein. Sei es als sogenannte freie Improvisation, die sich seit den 1950er Jahren als eigenständige Kunstform ausdifferenziert hat. Wechselwirkungen von Improvisation und Komposition sind dabei oft fixer Bestandteil künstlerischen Schaffens. Doch nicht nur in der IGNM / ISCM wurde alles, was unter dem Stichwort (freie) Improvisation fiel Jahrzehnte lang verdrängt, auch im wissenschaftlichen wie journalistischen Diskurs war man lange Zeit bemüht, die Grenzmauern hoch zu halten. Komplett nieder gerissen sind sie lange noch nicht. Toleranz gegenüber dem Anderen ist dringend gefragt, nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der Kunst – um diese weiter zu entwickeln und die Kernfrage nach Möglichkeiten künstlerischen Gestaltens und einer Beibehaltung, Weiterentwicklung, Öffnung oder gar Über-Bord-Werfen des westlichen Kunstbegriffes sinnvoll diskutieren zu können.

Wechselwirkungen von Improvisation und Komposition dienen hier als ein Beispiel, (Kunst)Musikschaffen auf einer solchen Basis anders zu denken. Historisch bis in die 1960er Jahre zurückgehend, erfahren die Auseinandersetzung mit (freier) Improvisation und Komposition, heute eine neue Blütezeit. Nicht zuletzt auch deshalb, weil die besagten Mauern, wenn schon noch vorhanden, aber doch löchrig geworden sind.

 

CV:
Nina Polaschegg studierte Musikwissenschaften, Soziologie und Philosophie in Giessen und Hamburg wo sie auch promovierte. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der zeitgenössischen komponierten, improvisierten und elektronischen Musik sowie im zeitgenössischen Jazz und Musiksoziologie. Sie lebt als Musikwissenschaftlerin, Musikpublizistin, Moderatorin, Kontrabassistin und Bergwanderführerin in Wien und Seeboden, arbeitet für diverse öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten in Deutschland, Österreich und der Schweiz, moderiert Konzerte und schreibt für verschiedene Fachzeitschriften. Hatte Lehraufträge an den Musikhochschulen bzw. Universitäten Hamburg und Klagenfurt. Als Kontrabassistin spielte sie historisch informiert in  Barockorchestern und widmet sich v.a. der (freien) Improvisation.

Haruki Noda: Komponist:in-Sein = Entfremdet-Sein? Eine Kritik soziokultureller Problemlagen im Feld der Neuen Musik

Ob es ein Der-Welt-abhandengekommen-Sein ist, das Fühlen von Luft von anderem Planeten oder die Behauptung, auf Sirius ausgebildet worden zu sein – Entfremdung von sich und der Welt scheint als Topos fixer Bestandteil in vielen Selbst- und Fremdinszenierungen von Komponist:innen des 20. Jahrhunderts zu sein. Mein Vortrag beschäftigt sich allerdings nicht mit diesen Konstruktionen von Künstlerbildern in der symbolischen Sphäre des Diskurses.1 Stattdessen möchte ich durch die Anwendung des Entfremdungs-Begriffs den kritischen Blick auf reale soziokulturelle Problemlagen innerhalb des Feldes der Neuen Musik richten. Der hier anzuwendende Entfremdungs-Begriff orientiert sich demnach stark an jenem Rahel Jaeggis. In diesem Sinne werden hier unter ‚Entfremdung‘ „verschiedene Formen der Störung von Aneignungsverhältnissen“2 verstanden. Daher gilt es nicht, die Abwesenheit von Beziehungen – wie dies z. B. durch die häufige Verwendung des Begriffs ‚Isolation‘ in diesem Kontext impliziert wird3 – festzustellen, sondern ihren defizitären Charakter.

Dieser Vortrag versucht dies auf zwei Arten: In einem ersten Teil wird theoretisch bestimmt, welche Arten von Beziehungen Komponist:innen Neuer Musik haben und inwieweit diese als entfremdet verstanden werden können. Zu unterscheiden sind hier im Sinne Jaeggis entfremdete Beziehungen zu den Mitmenschen, zu den Dingen, zu den gesellschaftlichen Institutionen und letztlich zu sich selbst. Besondere Berücksichtigung werden im Vortrag die Beziehungen zu den Dingen – hier in erster Linie Produkte der Arbeit der Komponierenden, also Werke – sowie zu den Mitmenschen – hier alle am Produktionsprozess und an Konsumtion beteiligte (von Musiker:innen, Tonmeister:innen, über Konzertveranstalter:innen bis hin zum Publikum und Kritiker:innen) – erhalten. Diesen theoretischen Rahmen gilt es im zweiten Teil mit empirischen Beobachtungen ‚aus dem Feld‘4 zu füllen. Dafür werden zwei Beispiele aus der aktuellen Kompositions- und Musizierpraxis vorgestellt, die Versuche darstellen, defizitäre Beziehungen zu behandeln: Dies wird zum einen die Aneignung (bzw. die Störung der Aneignung) fremder Werke durch Sampling und Remixen sein, wie dies bspw. Paradigmatisch in product placements von Johannes Kreidler geschieht. Zum anderen werden inklusive Konzert- und Werkformen aus der elektronischen Improvisations-Szene in Wien besprochen, in denen Grenzen zwischen Komponierenden, Aus- bzw. Aufführenden und dem Publikum neu gezogen bzw. überschritten und somit Aneignungsprozesse ermöglicht werden. Insofern will dieser Vortrag mögliche Antworten auf die „Symptome eines spätmodernen Resonanzdesasters“5, die auch oder vielleicht sogar vor allem im Bereich der Neuen Musik zu spüren sind, aufzeigen.

1 Vgl. dazu Kaden, Christian, „Annäherung und Entfremdung. Soziokommunikative Funktionen von Künstlerbildern“, in: Uwe Harten et al. (Hg.), Bruckner-Symposion Künstler-Bilder im Rahmen des Internationalen Brucknerfestes Linz 1998, Linz 2000, S. 37–52.
2 Jaeggi, Rahel, Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems, Berlin 32022, S. 20–21.
3 Custodis, Michael, Die soziale Isolation der neuen Musik. Zum Kölner Musikleben nach 1945, Stuttgart 2004.
4 Vgl. dazu Born, Georgina, Rationalizing Culture: IRCAM, Boulez and the Institutionalization of the Musical Avant-garde, Berkeley 1995.

 

CV:
Haruki Noda studied Classical Guitar at Hochschule für Musik und Tanz Köln (Cologne) and Music Theory, Composition and Electro-Acoustique Composition at mdw. 2017–2019 he was assistant at the institute for musicology at mdw, 2019–2021 research assistant at the research project 'Klingende Zeitgeschichte', since 2021 he is working at the Wissenschaftszentrum Arnold Schönberg und die Wiener Schule. He is a PhD-candidate in musicology at mdw.

Mario Cosimo Schmidt: Musique informelle heute. Überlegungen zum Sinn musikalischer Formbildung im heutigen Komponieren

In seinem programmatischen Essay Vers une musique informelle hat Theodor W. Adorno 1961 den Entwurf einer informellen Musik konzipiert, in dem Überlegungen zum Verhältnis von Musik, Formbildung, Komposition, Ästhetik und Gesellschaft angestellt werden, die vielleicht zu den avanciertesten zählen, die überhaupt in der Geschichte der Neuen Musik zu finden sind. Denn obwohl jener Essay heute schon über fünfzig Jahre alt ist, sind die Probleme des Komponierens, die in ihm beschrieben werden, immer noch virulent. Adornos Diagnose zur Situation des Komponierens um 1960 beschreibt nichts geringeres als einen aporetischen Zustand, der in der Polarität zwischen seriellem und aseriellen Komponieren zum Ausdruck kommt.
Anderes als viele andere Theorien des Informellen diagnostiziert Adornos aber einen Zustand, in dem nicht nur der Sinn des traditionellen integralen Kunstwerks, sondern der Sinn künstlerischer Formbildung überhaupt in Frage steht: es geht um die »raison d’être der Formen«.
Aber Vers une musique informelle ist nicht nur die kompromisslose Reflexion eines aporetischen Zustands, sondern auch der Versuch, ein ästhetisches Programm zu formulieren, das aus dieser Aporie hinaus führen kann. Und so endet Adornos Essay denn auch mit einer künstlerisch-utopischen Forderung: »Dinge machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind.«
Die Frage, die ich suche zu beantworten, ist: Wo steht das gegenwärtige Komponieren, wo stehen wir heute in diesem Kraftfeld von Aporie und Utopie einer musique informelle?

 

CV:
Mario Cosimo, geboren 1989, studierte Komposition, Musiktheorie sowie Sozialwissenschaften und Philosophie in Leipzig und Paris.
Seine Studien führten ihn u.a. zu Claus-Steffen Mahnkopf, Wolfram Schurig, Steven Kazuo Takasugi, Annette Schlünz, Violetta Dinescu und Moritz Eggert.
Er lebt als Komponist, Musiktheoretiker und Publizist in Leipzig und ist Lehrbeauftragter für Musiktheorie an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover.
Von ihm sind zahlreiche Texte zu kompositionstechnischen, musikästhetischen sowie philosophischen Themen erschienen.
Zur Uraufführung kamen Werke für Klavier, Kammerensemble, Streichquartett, Elektronik und Orchester.
für weitere Informationen:
www.mario-cosimo.com

Christoph Haffter: Algorithmus und Scham. Die Musik Enno Poppes als Gegenwartsdiagnose

Die Musik Enno Poppes evoziert eine Konzeption von Rationalität und Intelligenz, welche gegenwärtig Ängste und Hoffnungen schürt: Intelligenz als Algorithmus, Rationalität als Informationsverarbeitung. Die gegenwärtigen Leistungen algorithmischer Verfahren gehen so weit, dass sich neue Formen prometheischer Scham (Günther Anders) ausbreiten: Scham über die Begrenztheit und Anfälligkeit menschlicher Rationalität im Lichte ihrer technischen Externalisierung. Poppes Musik ist aber nicht einfach das Resultat solcher algorithmischen Verfahren. Sie errichtet vielmehr den Schein des Algorithmischen, um jene Scham musikalisch zu verhandeln. Der Algorithmus erscheint in Poppes Kompositionen typischerweise als musikalisches Leiern, als ein kombinatorisches Umstellen mikrotonaler Kleinstmotive. Diese musikalisch inszenierten, pedantisch durchexerzierten Abwandlungsverfahren lassen Formkomplexe hervorwuchern, welche den hörenden Nachvollzug überfordern. Anders als der Komplexismus der Ferneyhough-Schule scheut dieser Ansatz darüber hinaus konsequent allen expressiven Pathos. Sie ist nicht ernst, sondern heiter. Beide Aspekte – die Strategie der Überforderung und die Ausdrucksscheu – hängen mit dem Problem der Scham zusammen: Sie erzeugt Scham über die begrenzte Verarbeitungskapazität und sie zeugt zugleich von einer schamhaften Besetzung des Affektiven. Wo Poppes Musik gelingt, geht sie jedoch über die Reproduktion dieses Schamkomplexes hinaus. Sie vermag das bornierte Bild der Rationalität zu sprengen, dem die gegenwärtige Scham verhaftet ist.

 

CV:
Dr. Christoph Haffter, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsstelle Musikphilosophie des Philosophischen Seminars der Universität Basel und der Musikhochschule FHNW Basel. Er studierte Philosophie und Musikwissenschaft in Basel, Paris (VIII) und Berlin (Humboldt), war Visiting Scholar in New York (Columbia) und Assistent am Lehrstuhl für Kunstphilosophie der Universität Fribourg. Er ist als Musikkritiker tätig und ist mitverantwortlich für die Online-Zeitschrift www.partisan-notes.com.

Nico Daleman: Neurophilia. Imaginaries of the brain in new music. Between neurocentrism and posthuman ideologies

This paper explores some of the aesthetic implications of neuroscientific research in contemporary music.

Drawing on Charles Taylor's idea of the social imaginary, I coin the term "imaginaries of the brain" as an unifying concept between the narratives of science communication and the traditions of contemporary music that refer to neuroscience. I assume that the use of neuroscientific technologies in music-making functions as an active agent in the construction of cultural and political imaginaries of the brain, which solidify hegemonic discourses within music making. Giving the absence of meaningful channels of exchange between the fields of contemporary musicology in positivist neuroscientific musical research, contemporary music’s imaginaries of the brain are in need of an aesthetic recontextualization.

The dogmatic scientism of the neurological ideology has transformed the brain from a physiological organ into a sublime entity of its own speculation. As a synthesis of the mind-body dialectic, the brain serves both as the embodiment of rationality and the abstraction of human corporeality, which positions it as an ambiguous element in the semantics of musical practices. On the one hand it constructs an idealist image of music as an abstract entity through the sublime, but on the other hand it provides optimal material for the conceptual aesthetics of new music.

In order to elucidate different aesthetic approaches to the imaginaries of the brain in relation to practices of neuroscientific research and posthuman theories, I utilize Chris Chafe’s Gnosisong (2016) and Enno Pope’s Hirn (2021) as case studies. Based on phenomenological methodologies borrowed from the discourses of sound studies, I aim to challenge the imaginaries of the brain created by science communication and re-imagine the brain as an embodied agent of the posthuman reality.


CV:
Nico Daleman (Bogotá 1989) is a Colombian-born sound artist and researcher based in Berlin. His research explores the consequences of music technology in contemporary music focusing on neuroscience and artificial intelligence. He has presented his research at the CTM 2023, Harvard Graduate Forum 2022, Digital Libraries for Musicology 2021, and Sound of Sound Studies 2021. His writings have been published in KlangMagazine, MusikTexte, Positionen and the Berliner Festspiele Blog. Currently writing his dissertation under the supervision of Prof. Dr. habil. Sabine Sanio at the UdK Berlin, Nico studied Audio Engineering, Musicology, and Sound Studies & Sonic Arts in Bogotá, Boston, and Berlin.

Konzert Ensemble Names

Informationen: https://www.wienmodern.at/2023-names-ensemble-dystopien-ignm-1003-de-2574

NAMES (New Art and Music Ensemble Salzburg) is a Salzburg-based contemporary music ensemble founded in 2014. The eleven musicians, coming from seven European countries, aim to combine different forms of contemporary art in their programs and concepts, with the goal of enriching their musical approach. Therefore, they collaborate with various artists from a wide range of disciplines (performance, dance, visual arts, literature...). A special focus lies on the integration of electronics into the ensemble-sound.

As one of Austria’s emerging ensembles, NAMES can look back at a rich activity, projects and concerts at national and international venues and festivals (e.g. Aspekte, Dialoge Festival, Mixtur Barcelona, Druskomanija Lithuania, Crossroads Festival, Daegu Contemporary, Primavera Verona, Schönberg Center Vienna, Adevavantgarde Munich).

The ensemble understands itself as a collective, which is democratically working on all artistic and managing decisions together. A particularly close collaboration links NAMES with the Studio for Electronic Music of the Mozarteum University of Salzburg. By combining a desire for chamber music and sound craftsmanship, NAMES sees itself as an experimental laboratory for lovers of new ideas and sounds.

Round-Table-Gespräch mit den Komponist:innen Marco Döttlinger (Names Ensemble), Georgia Koumará, Bekah Simms, Patrick Lechner und Golnaz Shariatzadeh zum Thema "musikalische Dystopien"

 

 

Lidiya Melnyk: Krieg hat (k)ein weibliches Gesicht: Kriegstraumata und deren Verarbeitung in der Musik ukrainischer Komponistinnen und Komponisten der Gegenwart. Eine Studie zur geschlechtsspezifischen Ästhetik in der Ausnahmesituation

Der Krieg mit Russland ist zu einem zentralen Schwerpunkt im Schaffen ukrainischer Künstlerinnen und Künstler der Gegenwart geworden, insbesondere nach dem Beginn der Vollinvasion. Gleichzeitig ist jeder Krieg als "Politik der Verletzung" eine zutiefst vergeschlechtlichte Aktivität (vgl. Swati Parashar (2015), Anger, war and feminist storytelling) und beschwört die politische Pflege einer Art "militarisierter Männlichkeit" herauf. Das Ziel der vorgelegten Studie ist es, die ästhetischen Ansätze und ihre Lösungen in den „Kriegswerken“ ukrainischer Komponistinnen und Komponisten zu vergleichen, um auch die geschlechtsspezifischen Unterschiede im Umgang mit der aktuellen Thematik herauszufinden. Basierend auf speziell für diese Forschung entwickelte und durchgeführte Umfrage, die in der ersten Reihe der Selbstanalyse für jeweils fünf ausgewählte ukrainische Komponistinnen und Komponisten diente, liefert diese Studie klar definierte und sehr unterschiedliche Bilder „weiblicher“ und „männlicher“ Wahrnehmungen in Ausnahmesituationen und zeigt gleichzeitig einen hohen Grad künstlichen Engagements und Zivilcourage, die von Geschlechtsspezifik unabhängig sind.

Folgende Kriterien waren bei der Umfrage und darauffolgender Auswahl der Werke berücksichtigt:

Aktueller Wohnort: im Fokus wurden nur die Komponistinnen und Komponisten genommen, welche das Land nach der Vollinvasion nicht verlassen haben (Faktor unmittelbarer ästhetischer Antwort). Darüber hinaus war die geographische Breite wichtig (Kyiv, Charkiv, Odessa, Lemberg), was in der aktuellen Situation auch die Entfernung von der Kampflinie bedeutet;

-       Persönliche Betroffenheit von den Kriegsgeschehen: ungefähr 30 Prozent der Befragten sind unmittelbar von den Kriegsgeschehen betroffen;

-       Anlass zum Schaffen konkreter Werke: ungefähr die Hälfte der in der Studie eingezogenen Kompositionen sind auf Auftrag unterschiedlichen Musikinstitutionen geschrieben, wie, zum Beispiel, Let There Be Light von Bohdana Frolyak (Auftragwerk der BBC Proms). Im Gegensatz zu solchen Auftragswerken stellen „Initiativwerke“ eine unmittelbare und nicht vorgegebene, schnelle ästhetische Antwort auf das Kriegsgeschehen dar, was auch die Auswahl der Ausdrucksmittel oft beeinflusste.

      Ferner reflektieren die Komponistinnen und Komponisten aus gegebenem Anlass über die eigene Produktivität, die entweder unverändert blieb oder gesunken ist, in ca. 20 Prozent der Fälle ist diese sogar gestiegen. Die eigene musikalischen Sprache blieb jedoch meistens unverändert, wurde weder moderner noch traditioneller. 

Das Wichtigste für die Studie blieb jedoch die Recherche nach den geschlechtsspezifischen künstlerischen Reflexionen, problematische und thematische Aspekte, Gattungsspezifik, Erzählstrategien, Verhältnis zwischen Traditionellem und Innovativem, Modalität, Pathos und Idee. Aus diesen Prämissen herausgehend streben die analysierten „maskulinen“ (im Gegensatz zu vielen anderen Studien, entsprechen diese beiden Definitionen – sowohl „maskulin“ als auch „feminin“ – im Kontext vorgelegter Forschung dem tatsächlichen Geschlecht der Autor:innen) Werke viel öfters zur einen unmittelbaren Wiederspiegelung des Erlebten, wenngleich die „femininen“ viel tiefer in den Reflexionen herangehen, in eigener Welt der schmerzhaften Erfahrungen, die oft nur durch eigener Schaffen als therapeutischer Mittel zu überwinden sind (z.B. Poleva). Auch das eher plakative Siegerthematik zeichnet fast ausschließlich die Werke der Komponisten, aber nicht der Komponistinnen aus.

Folgende Werke sind für die Studie ausgewählt:

Zoltan Almashi (geb.1975) Maria’s City  

Bohdana Frolyak (geb. 1968) Let There Be Light 

Viktor Kaminskyy (geb. 1953) Heroische Ouvertüre

Maxim Kolomiiets (geb. 1981) Footprints on the Sun

Ostap Manulyak (geb.1983) Syreny für fixed media

Victoria Poleva (geb. 1962) Bucha: Lacrimosa

Oleksandr Shchetynskyi (geb. 1960) Lacrimosa

Maria Slepchenko (geb. 1983) The Third Angel

Karmella Tsepkolenko (geb.1955) Reading History (nach Gedichten von Oksana Zabuzhko) 

Alla Zagaykevych (geb. 1966). Le Voyage au Bout de la Nuit


CV:
Dr. Dr. habil. LIDIYA MELNYK ist außerordentliche Professorin der Nationale Musikakademie Mykola Lysenko in Lemberg, Ukraine, wo sie auch geboren wurde und studierte. Darüber hinaus unterrichtete sie in den letzten Jahren am Institut für Musikwissenschaft der Universität Wien (darunter das Vorlesungskurs „Einführung in die Geschichte der ukrainischen Musik“) und an der Ukrainischen Freien Universität in München. Ihre Forschungsinteressen umfassen Musik und Totalitarismus, Musikkultur Galizien (insbesondere galizischen Juden), Theorie und Praxis des Musikjournalismus. Mehr als 60 wissenschaftlichen Publikationen der Musikwissenschaftlerin rundet aktive journalistische und redaktionelle Tätigkeit auf.