Was ist Musik? Eine interkulturelle Perspektive
Christian Kaden (Berlin)
Ringvorlesung Musik Kultur Wissenschaft am 10. Oktober 2011
Was Musik sei, erscheint zunächst als banale Fragestellung. Denn die Wörterbücher wissen es: Als Tonkunst habe sie zu gelten, als geordneter Schall, strukturierte Klanglichkeit. Andererseits ist die Frage heikel, sofern die Fülle entsprechender Erscheinungen, die sich im „global village“ zu erkennen gibt, unter einem einheitlichen Oberbegriff nicht mehr zu fassen ist. Das zeigt sich bereits mit Blick auf selbstverständlich anmutende Konstitutiva der Musik wie feste Tönhöhen oder konsonantische Tonverwandtschaften: Andere Kulturen definieren ihre Normen anders. Und selbst die abendländische Überlieferung – die nach Carl Dahlhaus ihr einigendes Band in der Konstruktion von Tonsystemen findet – ist alles andere als linear, sondern voll von Weggabelungen, Verzweigungen, Parallelführungen. Der Vortrag wird sie als Optionsbaum oder Optionsnetz darstellen. Dennoch bleibt darüber nachzudenken, ob in den vielen „Musiken“ der verschiedenen Kulturen, da von Menschen hervorgebracht, nicht auch menschliche Universalien stecken. Dies macht einen Perspektivwechsel nötig, der sich von klanglichen „Phainomena“ (Formen, Strukturen) ab- und zu sozialen Sinngebungen hinwendet. Diskutiert werden soll das Problem am Verhältnis von Musik(en) und kosmischen Ordnungen, Musik und Zeitlichkeit, Musik und Subjektivität. Zugleich wird geworben für eine Neuorientierung der Musikforschung, die weniger auf Spezifika des Musikalischen zielt als auf das ihm Wesentliche.
Prüfungsrelevante Pflichtlektüre
Christian Kaden, “Musik (musiké, musica)”, in: Ästhetische Grundbegriffe (Hg. K. Barck et al.), Bd. 4, Stuttgart 2003, 256-275. (Scan)
Weiterführende Literatur
Carl Dahlhaus, Hans Heinrich Eggebrecht, Was ist Musik? Wilhelmshaven 1987.
Bruno Nettl, „Music“, in: The New Grove, 2nd edition, London 2001.
Christian Kaden, Das Unerhörte und das Unhörbare. Was Musik ist, was Musik sein kann, Kassel 2004.
Michael Beiche, Albrecht Riethmüller (Hg.), Musik – Zu Begriff und Konzepten, Stuttgart 2006.
Biographische Notiz
Geboren 1946 in Dohna (bei Dresden); Studium der Musikwissenschaft und Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin (Georg Knepler, Frederick Rose); 1972 Promotion, 1983 Habilitation; seit 1973 Lektor, seit 1986 Dozent für Musiksoziologie an der Humboldt-Universität; 1993 ebenda Berufung zum Professor für Musikwissenschaft; Gastdozenturen in Havanna (1982), Lissabon (1989), Graz (1992), Heidelberg (1993), Chicago (1995), Hong Kong (2000), Wien (2001), Seoul (2006), Beijing (2010); seit 2005 Ordentliches Mitglied der Sächsischen Akademie der Künste.
Arbeitsschwerpunkte: Entwicklung der Musiksoziologie als Ganzes, Historische Anthropologie der Musik, Musikethnologie, Musiksemiotik, musikalische Begriffsgeschichte.
Bücher: Hirtensignale. Musikalische Syntax und kommunikative Praxis, Leipzig 1977; Musiksoziologie, Berlin und Wilhelmshaven 1984; Des Lebens wilder Kreis. Musik im Zivilisationsprozess, Kassel 1993; Das Unerhörte und das Unhörbare. Was Musik ist, was Musik sein kann, Kassel 2004; Soziale Horizonte von Musik. Ein kommentiertes Lesebuch zur Musiksoziologie (als Herausgeber, mit Karsten Mackensen), Kassel 2006.